Friedells „Kulturgeschichte der Neuzeit“ – Eine Entdeckung

Ich habe lange kein so interessantes, anregendes Buch gelesen wie Egon Friedells Kulturgeschichte der Neuzeit. Friedell (1878-1938) war das, was man früher einmal einen Universalgelehrten genannt hat. Er hatte aber nicht nur ein umfassendes Wissen, er war auch ein höchst origineller Kopf und ein brillanter Stilist. Zu lesen, wie er auf den 1.571 Seiten meiner Ausgabe „Die Krisis der europäischen Seele von der Schwarzen Pest bis zum Ersten Weltkrieg“ beschreibt, ist ein geistiges Vergnügen der ganz besonderen Art – es ist, als ginge man mit einem klugen Mann spazieren, der gutgelaunt und mit Charme und Esprit über ein halbes Jahrtausend europäischer Kultur plaudert, ohne daß auch nur ein Moment der Langeweile aufkommt.

Nehmen wir einmal Raffael.

War Raffael nicht, so fragt er in dem Kapitel über die italienische Renaissance, einer der vollkommensten Maler? Und er antwortet: „Zweifellos.“ Aber:

Die Vollkommenheit Raffaels ist es ja gerade, die ihn uns so fern, so fremd und stumm macht. „Das Unzulängliche ist produktiv“, lautet einer der tiefsten Aussprüche Goethes. Alles Ganze, Vollendete ist eben vollendet, fertig und daher abgetan, gewesen; das Halbe ist entwicklungsfähig, fortschreitend, immer auf der Suche nach seinem Komplement. Vollkommenheit ist steril.

Und er fügt hinzu:

Diese Ansicht, daß die Darstellung des Vollkommenen die Aufgabe der Kunst sei, war der Grundirrtum Raffaels; und der Grundirrtum des ganzen Klassizismus. Immer wieder tauchen von Zeit zu Zeit große Künstler auf, die uns vorübergehend zu beweisen scheinen, daß Klassizismus, das heißt: strenge Ordnung, Einheit, Gradlinigkeit, Harmonie, farblose Durchsichtigkeit die Blüte jeder Kunst sei. In der Tat: manche „klassische“ Schöpfungen sind bisweilen von einer so übernatürlichen, unwirklichen Schönheit, daß wir für den Augenblick geneigt sind, zu vermuten, dies sei die Spitze der Kunst und alles andere nur ein mehr oder minder unvollkommener tappender Versuch nach diesem Gipfel hin. Es ist aber eine Täuschung. Diese Phänomene sind nicht etwa die Verkörperung der Regel (was man glauben könnte, wenn man bedenkt, daß sie die regelmäßigsten sind); sie sind im Gegenteil interessante Abweichungen, bewunderungwürdige Monstra. Unregelmäßigkeit ist das Wesen der Natur, des Lebens, des Menschen.

Wir betrachten klassische Schöpfungen mit Staunen und Verehrung wie Gletscher, aber wir möchten nicht dort wohnen und können es auch gar nicht.

In diesem klaren, immer wieder überraschenden Stil geht es weiter, Absatz für Absatz, Seite für Seite.

Man kann nicht aufhören, wenn man einmal mit dem Lesen angefangen hat.

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„Kabul ist eine schöne Stadt“ – Ein Bericht über Afghanistan aus dem Jahre 1857

Wer noch die blauen Marx-Engels Werke im Regal stehen hat, sollte vielleicht einmal den Band 14 aufschlagen. Da findet sich auf S. 73 ff. ein Artikel, den Friedrich Engels im August 1857 unter dem Titel „Afghanistan“ für eine amerikanische Enzyklopädie geschrieben hat, nämlich für The New American Cyclopaedia – A Popular Dictionary of General Knowledge.

Es fängt ganz sachlich an:

Afghanistan – ein weiträumiges Land in Asien, nordwestlich von Indien. Es liegt zwischen Persien und Indien und, der anderen Richtung nach, zwischen dem Hindukusch und dem Indischen Ozean. Wie alle gebirgigen Tropenländer bietet es eine große klimatische Vielfalt. Im Hindukusch sind die hohen Gipfel das ganze Jahr hindurch schneebedeckt, während in den Tälern das Thermometer bis auf 130° Fahrenheit (54,4° C.) ansteigt.

Der Boden ist von einer üppigen Fruchtbarkeit. Dattelpalmen gedeihen in den Oasen der sandigen Einöden, Zuckerrohr und Baumwolle in den warmen Tälern, und europäische Obst- und Gemüsearten wachsen im Überfluß an den Bergterrassen bis zu einer Höhe von 6.000 bis 7.000 Fuß. Die Berge sind mit stattlichen Wäldern bedeckt, in denen Bären, Wölfe und Füchse zu Haus sind, während sich Löwe, Leopard und Tiger in Gebieten finden, die ihrer Lebensweise entsprechen.

Kabul ist eine schöne Stadt, auf 34° 10′ nördlicher Breite und 60° 43′ östlicher Länge am Fluß gleichen Namens gelegen. Die Häuser sind aus Holz, reinlich und geräumig, und da die Stadt von schönen Gärten umringt ist, bietet sie einen sehr gefälligen Anblick. Sie ist von Dörfern umgeben und liegt inmitten einer weiten, von niedrigen Bergen umschlossenen Ebene. Ihr bedeutendstes Baudenkmal ist das Grab des Kaisers Baber. Peschawar ist eine große Stadt mit einer auf 100.000 geschätzten Einwohnerzahl. Ghasni, eine Stadt mit bedeutender Vergangenheit, einstmals die Hauptstadt des bedeutenden Sultans Machmud, hat seinen alten Glanz eingebüßt und ist jetzt ein armseliger Ort. In seiner Nähe befindet sich die Grabstätte Machmuds. Kandahar wurde erst 1754 gegründet. Es liegt an der Stelle einer älteren Stadt. Einige Jahre war es die Hauptstadt, 1774 jedoch wurde der Sitz der Regierung nach Kabul verlegt. Es soll 100.000 Einwohner haben.

Über die Bevölkerung schreibt Engels:

Die Afghanen sind ein tapferes, zähes und freiheitsliebendes Volk; sie beschäftigen sich ausschließlich mit Viehzucht und Ackerbau und meiden Handel und Gewerbe, die sie voller Verachtung den Hindus und anderen Stadtbewohnern überlassen. Der Krieg ist für sie ein erregendes Erlebnis und eine Abwechslung von der monotonen Erwerbsarbeit. Die Afghanen sind in Clans aufgeteilt, über welche die verschiedenen Häuptlinge eine Art feudaler Oberhoheit ausüben. Nur ihr unbezwinglicher Haß auf jede Herrschaft und ihre Vorliebe für persönliche Unabhängigkeit verhindern, daß sie eine mächtige Nation werden; aber gerade diese Ziellosigkeit und Unbeständigkeit im Handeln machen sie zu gefährlichen Nachbarn, die leicht vom Wind der Laune aufgewühlt oder durch politische Intriganten, die geschickt ihre Leidenschaften entfachen, in Erregung versetzt werden können.

Die Rechtspflege erfolgt in den Städten durch Kadis, aber die Afghanen nehmen selten zum Gesetz ihre Zuflucht. Ihre Khans haben das Recht auf Bestrafung, sogar bis zur Entscheidung über Leben und Tod. Die Blutrache ist Pflicht der Sippe; trotzdem sollen die Afghanen, wenn sie nicht gereizt werden, ein freisinniges und edelmütiges Volk sein, und die Rechte der Gastfreundschaft sind so geheiligt, daß ein Todfeind, der als Gast Brot und Salz ißt, selbst wenn er es durch List bekommen hat, vor der Rache geschützt ist und sogar den Schutz seines Gastgebers gegen alle anderen Gefahren fordern kann. Der Religion nach sind sie Mohammedaner von der Sunna-Sekte; aber sie sind ihr nicht blind ergeben, und Verbindungen zwischen Schiiten und Sunniten sind keinesfalls ungewöhnlich.

Dann schreibt der Autor über den ersten Versuch der Engländer, sich Afghanistan einzuverleiben. Eine Armee von 12.000 Mann überquerte den Indus. Einige Städte wurden erobert, andere fielen den Briten kampflos zu. Nachdem sich auch Kabul ergeben hatte, schien der Krieg gewonnen.

Die Eroberung Afghanistans schien abgeschlossen zu sein, und ein beträchtlicher Teil der Truppen wurde zurückgeschickt. Aber die Afghanen gaben sich keineswegs damit zufrieden, von den Feringhi Kafirs (den europäischen Ungläubigen) beherrscht zu werden, und während der Jahre 1840 und 1841 folgte in den einzelnen Teilen des Landes ein Aufstand dem andern. Die englisch-indischen Truppen waren gezwungen, ständig in Bewegung zu bleiben. Doch Macnaghten erklärte, das sei der normale Zustand der afghanischen Gesellschaft, und schrieb nach Hause, alles sei in Ordnung und die Macht Schah Schudschahs festige sich. Vergeblich waren die Warnungen der englischen Offiziere und anderer politischer Agenten.

Kommt Ihnen das bekannt vor? Schah Schudschah war übrigens der von den Engländern eingesetzte Herrscher, Macnaghten, der Gouverneur von Bombay, zog die Fäden.

Die Besetzung Afghanistans kostete dem indischen Schatzamt jährlich 1 250 000 Pfund Sterling: 16 000 Soldaten – die englisch-indischen und die Truppen Schah Schudschahs – in Afghanistan mußten bezahlt werden; weitere 3000 lagen in Sind und am Bolanpaß; Schah Schudschahs königlicher Prunk, die Gehälter seiner Beamten und alle Ausgaben seines Hofes und seiner Regierung wurden vom indischen Schatzamt bezahlt; und schließlich wurden die afghanischen Häuptlinge aus derselben Quelle subsidiert oder vielmehr bestochen, um zu verhindern, daß sie Unheil stifteten. Macnaghten wurde mitgeteilt, daß es unmöglich wäre, weiterhin diese hohen Geldausgaben beizubehalten. Er versuchte, Einschränkungen vorzunehmen, aber der einzig mögliche Weg, sie zu erzwingen, bestand darin, die Zuwendungen für die Häuptlinge zu beschneiden. An demselben Tage, an dem er das versuchte, stifteten die Häuptlinge eine Verschwörung zur Ausrottung der Briten an, und so war es Macnaghten selbst, der zur Einigung jener aufständischen Kräfte beitrug, die bislang einzeln und isoliert und ohne Übereinstimmung gegen die Eindringlinge gekämpft hatten.

Die Engländer mußten sich aus dem Land unter schweren Verlusten zurückziehen, Schah Schudschah, ihre Marionette auf dem Thron, wurde getötet. „So endete der Versuch der Briten“, schreibt Friedrich Engels, „in Afghanistan eine ihrer Kreaturen auf den Thron zu setzen.“

Ja, es stimmt: die Geschichte wiederholt sich nicht. Aber lernen kann man aus ihr schon. Wenn man nur wollte.

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Armes Curry

Die 27jährige indischstämmige Foodbloggerin Chaheti Bansal aus Kalifornien sorgt für Aufsehen, ihr Name geht durch alle Medien. Warum? Weil sie ihr Lieblingsthema, die indische Küche, mit dem modernen Zeitgeist verbindet, der in den USA gerade besonders stürmisch weht. Sie schreibt (hier nachzulesen):

Es gibt ein Sprichwort, dass sich das Essen in Indien alle 100 km ändert, und dennoch verwenden wir immer noch diesen Oberbegriff, der von Weißen populär gemacht wird, die sich nicht die Mühe machen konnten, die tatsächlichen Namen unserer Gerichte zu erfahren.

Was sie dann in Interviews nachgeschoben hat – die indische Küche sei so vielfältig, daß man sie doch nicht unter dem Oberbegriff „Curry“ zusammenfassen könne usw. – das alles ist zwar richtig, aber damit hätte sie kaum Aufsehen erregt, und NBC Asian America hätte sie auch niemals zum Interview eingeladen. Erst ihre Aussage, das Wort Curry sei „von Weißen populär gemacht“ worden, noch dazu von Weißen, die sich nicht einmal die Mühe gemacht hätten, die „tatsächlichen Namen“ der Gerichte zu erfahren, hat sie in die Schlagzeilen gebracht.

Könnte es nicht sein, daß die Namen für europäische Ohren so fremd und unaussprechlich waren, daß man sie durch einfacher klingende ersetzt hat? Ist das nicht immer und überall, bei allen Völkern, so gewesen? Ich könnte mir, mit Verlaub, sogar vorstellen, daß man in Indien auch nicht alle österreichischen Mehlspeisen, wenn man sie denn überhaupt kennt, mit ihrem korrekten Namen bezeichnet. Oder irre ich mich da? Was mich aber am meisten ärgert: muß man denn heutzutage immerfort und überall Kolonialismus und Rassismus wittern? „Die Weißen“, liebe Frau Bansal, gibt es genausowenig, wie es „die Inder“ gibt.

Nicht einmal eine wirklich weitgereiste Autorin wie die US-Schriftstellerin Mimi Sheraton, die sogar ein Buch über die deutsche Küche geschrieben hat, war in der Lage, alle deutschen Gerichte richtig zu buchstabieren, sie hat sogar Fantasienamen wie das Mauerlöwerlei verwendet. Ich habe an dieser Stelle darüber berichtet. Und da sollen wir alle indischen Namen kennen?

Es gibt kaum etwas, das die Menschen mehr verbinden kann als das Essen. Wir haben von vielen Urlauben Rezepte mitgebracht, die heute in unserem Familienkochbuch stehen: aus Griechenland, Italien und Spanien, aus den Niederlanden (Poffertjes!), aus der Türkei und dem Orient mit ihren herrlichen Gewürzen – und, ja, auch ein indisches Gericht ist dabei. Essen zu kochen und miteinander zu genießen, das sollte uns verbinden. Wen interessiert es, ob der Name eines Gerichts von „den Weißen“ oder sonst jemand stammt?

Mich jedenfalls nicht.

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Der Tod von dem Schüler

Ja, so steht es wirklich da – in einer kurzen Inhaltsangabe zur Serie Riverdale im vielbesuchten Portal fernsehserien.de:

Der Tod von dem Schüler Jason Blossom am 4. Juli versetzt die gesamte Stadt in Schockstarre.

Wetten, daß der Autor dieses Satzes problemlos sein Abitur geschafft hat? In welchem Bundesland – da hätte ich auch ein paar Ideen. Das eigentlich Schlimme ist aber, daß die Zahl der Menschen, denen so ein Fehler überhaupt noch auffällt, immer kleiner wird.

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Ja, was ist denn ein After-Baby? Und was ist ein Bauch-Update?

Über beides informiert jetzt die Qualitäts-Plattform vip.de:

After-Baby-Bauch-Update von Jessica Paszka.

Auf dieses Update haben offenbar viele sehnsüchtig gewartet. Freilich kommen da bei mir einige Fragen auf. Wer oder was ist Jessica Paszka? Der Text klärt mich auf: Jessica Paszka ist eine „Ex-Bachelorette“. Aber was ist eine Bachelorette? Der Duden kennt nur, alphabetisch gleich nach dem „Bächelchen“, den „Bachelor“ als Inhaber des niedrigsten akademischen Grades. Eine Bachelorette kennt er gar nicht. In solchen Fällen hilft fast immer die Wikipedia. Sie weiß nicht nur, daß es sich bei der Bachelorette um eine „attraktive Junggesellin“ handelt, die in einer RTL-Show aus mehreren Kandidaten ihren Lebensabschnittspartner aussuchen darf, sie führt auch genauestens Buch über die jeweilige Junggesellin und ihre Kandidaten.

Also, mit Jessica Paszka verhält es sich laut Wikipedia wie folgt. Sie war 2017 die Bachelorette der vierten Staffel. Unter den zwanzig Freiern, die um sie warben – „Freier“ natürlich im altertümlichen Sinne des Wortes, wie es die Freier der Penelope in der Odyssee waren, denen freilich ein blutigeres Ende beschieden war als den Kandidaten von RTL – unter diesen Freiern also waren einige, die sich nur wenig Hoffnung machen konnten: ein „Sachbearbeiter für Logistikmanagement“ zum Beispiel, ein „Student (Philosophie und Sport auf Lehramt)“, ein „Werkzeugmechaniker“ und ein „Kundenberater bei einer Versicherung“. Auch der Niklas, bei dem unter Beruf vermerkt ist „plant italienisches Restaurant zu eröffnen“, dürfte es ziemlich schwer gehabt haben. Um es kurz zu machen: die Bachelorette entschied sich am Ende für den Schlagzeuger einer Metalband. Die beiden waren zwei Monate „liiert“, angeblich, dann trennten sie sich wieder. Inzwischen ist sie mit dem Zweitplazierten von 2017, einem „Außendienstmitarbeiter in der Baumaschinenbranche“ zusammen. Klingt nicht sehr glamourös, aber die beiden haben immerhin ein Baby bekommen.

Und das führt uns wieder zur Überschrift. Früher hat man ja eine Schwangerschaft gern unter geeigneter Kleidung verborgen, heute zeigt man schon kurz nach der Zeugung jedes Detail auf Instagram. Die Fachzeitschriften wie Bunte, Gala usw. reden dann gern vom „süßen Babybauch“. Eher neu ist, daß auch der Kampf gegen die Pfunde nach der Geburt (After-Baby-Bauch!) in stimmungsvollen Bildern geschildert wird – natürlich auch auf Instagram, und immer an geeigneten Locations, Ibiza zum Beispiel.

Abnehmen in Detmold oder Gelsenkirchen wäre ja auch ein bißchen öde.

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Brief an die Sprachpolizei – Betr.: Hermann Hesse

An die
Zentralabteilung der Sprachpolizei
– Literarische Altlasten –
Berlin

Betr.: Hesse, Hermann (1877-1962)

Sehr geehrte Damen und Herren,

unter Bezugnahme auf § 14 des Gesetzes zur Säuberung der deutschen Literatur (SdLG) möchte ich folgenden Text zur Anzeige bringen:

Hesse, Hermann, Der Europäer, in: Gesichtete Zeit – Deutsche Geschichten, hg. Marcel Reich-Ranicki, München (dtv) 1986.

Begründung:
Die Erzählung „Der Europäer“, die gleich mehrfach in eklatanter Weise gegen die in §3 SdLG aufgeführten Kriterien, vor allem §3b („Rassismus“) und §3c („Sexismus“), verstößt, ist dem heutigen Leser nicht mehr zuzumuten. Die folgenden wörtlichen Zitate mögen das belegen:

Ein gigantischer Neger fischte den Dahintreibenden auf, er lebte und kam bald wieder zu sich.

Der Neger rieb am Herde Feuer aus trockenen Hölzern und schlug vor Freude seiner fetten Frau in rhythmischen Taktfolgen auf die klatschenden Schenkel.

Wie der große Neger leicht und mühelos am Balken in die Höhe lief, das war des Zuschauens wert.

Der Indianer traf mit leichtem Pfeil das kleinste Ziel.

„Vorzeigen!“ rief der Neger, und alle drängten näher herzu.

Der Neger lachte munter und zeigte schneeweiße Zähne.

Der Neger aber, begleitet vom Eskimo, vom Indianer und dem Malaien, kam gegen Abend zu dem Patriarchen.

Ihr alle, du Neger und du Eskimo, habet für das neue Erdenleben, das wir bald zu beginnen hoffen, eure lieben Weiber mit, du deine Negerin, du deine Indianerin, du dein Eskimoweib.

Die Erzählung ist in zahlreichen anderen Sammelwerken vertreten, die zum Schutze der Allgemeinheit vor traumatisierenden Erlebnissen allesamt vernichtet werden sollten.

Ich hoffe, mit meinem Hinweis einen Beitrag zur geistigen Gesundheit des deutschen Volkes geleistet zu haben und verbleibe hochachtungsvoll

IM Lupulus.

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Jung, weiblich, mit Migrationshintergrund etc. – Die streng geheime Werteskala der Grünen

Sage einer, die Grünen hätten keine Wertehierarchie! Haben sie wohl. Man kann sie sogar tabellarisch, sozusagen in mathematischer Form, darstellen.

Weiblich 10 Punkte
jung (unter 45) +3 Punkte
People of color 7 Punkte
Migrationshintergrund 6 Punkte
LGBT+ 5 Punkte
Aktivist/-in 4 Punkte
Mann 0 Punkte
alter Mann -2 Punkte
alter weißer Mann -10 Punkte

Annalena Baerbock, selbst wenn wir sie als Klimaaktivistin einordnen, käme grade mal auf 17 Punkte – ein bißchen enttäuschend, sie kommt damit aber immer noch viel besser weg als Robert Habeck. Von seinen 5 Punkten als Aktivist, die wir ihm großmütig zubilligen wollen, müssen wir ihm leider 10 Punkte abziehen, weil er alt (51 Jahre) und weiß ist. Mit dann -5 Punkten rutscht er leider in die Minuszone und ist auch deshalb als Kanzlerkandidat eher ungeeignet. Aber selbst ein Cem Özdemir kann trotz der 6 Punkte für seinen Migrationshintergrund den Absturz ins Minus (-4 Punkte) nicht verhindern. Der Malus des alten weißen Mannes schlägt auch bei ihm kräftig durch.

Ideal als Kanzlerkandidatin der Grünen wäre dagegen Peggy Piesche, eine schwarze, in der DDR geborene, lesbische Aktivistin. Sie käme auf fast unschlagbare 32 Punkte, und für ihre Studien zu blackness und whiteness legen wir noch zwei Punkte drauf. Damit käme sie auf 34 Punkte, also doppelt so viele wie Baerbock – und wäre damit die am besten geeignete Kanzlerkandidatin der Grünen.

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Mauerlöwerlei, Schlachtplatter und Gulyassuppe nebst einem jüdischen Dichter namens Friedrich Schiller

Diesem antiquarischen Angebot konnte ich nicht widerstehen: Mimi Sheratons Buch „1,000 Foods to Eat Before You Die“. Darin führt uns die Autorin, die in den USA einen guten Ruf hat, in die Küchen der Welt. Gerichte aus aller Herren Länder stellt sie vor, von England bis Tahiti und von der Ukraine bis Kenia. Und natürlich auch Gerichte aus Deutschland.

Da wird es spannend. Man trifft nämlich auf die üblichen Verdächtigen, z.B. Brezln, Leberwurst, Gurkensalat, Königsberger Klopse, „Haxen“, Baumkuchen, Spätzle, Kartoffelsalat, Sauerbraten, Leberkäse, „Schwarzwälderkirschtorte“ und Berliner Pfannkuchen (auf hessisch Kreppel). Aber dann gibt es auch recht Merkwürdiges. Bei „Schlachtplatter“ und „Gulyassuppe“ kann man immerhin erahnen, was gemeint ist. Aber ist „Hirn mit Ei“ wirklich typisch für die deutsche Küche? Oder die „Biersuppe“? Und was bedeutet „Der Ganze Gans“?

Ganz und gar rätselhaft ist aber ein angeblich deutsches Backwerk, das Mimi Sheraton „Mauerlöwerlei“ nennt. Wenn man danach googelt, kommt als einziger Treffer eine Besprechung von Sheratons Buch im Guardian, in dem das Gericht wegen seiner „Unaussprechlichkeit“ (unpronounceability) auftaucht. Auch alle anderen Suchmaschinen kennen das Wort nicht. Man muß den englischen Text lesen, um der Lösung des Problems näherzukommen:

Mauerlöwerlei, or bricklayer’s loaves, are small, neat white-flour rolls whose rounded tops and oblong shape do indeed give them a somewhat bricklike aspect.

Es handelt sich beim „Mauerlöwerlei“ also um Brötchen (rolls), und den deutschen Namen übersetzt Sheraton mit „bricklayer’s loaves“. Bricklayer ist das englische Wort für „Maurer“, und loaf bedeutet „Brotlaib“. Wenn man beides miteinander kombiniert, kommt man nach längerem Probieren und Suchen auf ein Wort, das es tatsächlich gibt: „Maurerlaib“. Dabei handelt es sich freilich um ein Brot, das selbst in Bayern nur lokal bekannt ist.

Wie aber Mimi Sheraton auf das altertümlich klingende Wort „Mauerlöwerlei“ gekommen ist, wird wohl für immer ihr Geheimnis bleiben.

Zum Schluß nur noch zwei mißglückte Zitate aus dem Buch, die sich auf die deutsche Literatur beziehen. In dem Artikel „Sauerkraut“ zitiert Sheraton einen Vers von Heinrich Heine:

„You greeted me, my sauerkraut, with your most charming savor“ – From „Ode to Sauerkraut“ by Heinrich Heine.

Eine „Ode an das Sauerkraut“ gibt es freilich nicht. Die berühmten Verse stammen aus „Deutschland – Ein Wintermärchen“, und sie sind auch nicht so bieder lobend gemeint, wie die Autorin sie offenbar verstanden hat. Sie sind eingebettet in einen Reisebericht. Heine war nach vielen Jahren im Pariser Exil noch einmal nach Deutschland zurückgekehrt und beschreibt sein erstes Essen in der Heimat:

Von Köllen war ich drei Viertel auf acht
Des Morgens fortgereiset;
Wir kamen nach Hagen schon gegen drei,
Da ward zu Mittag gespeiset.

Der Tisch war gedeckt. Hier fand ich ganz
Die altgermanische Küche.
Sei mir gegrüßt, mein Sauerkraut,
Holdselig sind deine Gerüche!

Gestovte Kastanien im grünen Kohl!
So aß ich sie einst bei der Mutter!
Ihr heimischen Stockfische, seid mir gegrüßt!
Wie schwimmt ihr klug in der Butter!

Jedwedem fühlenden Herzen bleibt
Das Vaterland ewig teuer –
Ich liebe auch recht braun geschmort
Die Bücklinge und Eier.

Wie jauchzten die Würste im spritzelnden Fett!
Die Krammetsvögel, die frommen
Gebratenen Englein mit Apfelmus,
Sie zwitscherten mir: »Willkommen!«

»Willkommen, Landsmann« – zwitscherten sie –,
»Bist lange ausgeblieben,
Hast dich mit fremdem Gevögel so lang
In der Fremde herumgetrieben!«

Es stand auf dem Tische eine Gans,
Ein stilles, gemütliches Wesen.
Sie hat vielleicht mich einst geliebt,
Als wir beide noch jung gewesen.

Sie blickte mich an so bedeutungsvoll,
So innig, so treu, so wehe!
Besaß eine schöne Seele gewiß,
Doch war das Fleisch sehr zähe.

Es ist die für Heine typische Stimmung, in der jede aufkommende Sentimentalität sofort ironisch gebrochen wird. Von einer „Ode ans Sauerkraut“ also keine Spur. Das ist freilich, wenn man kein native speaker ist, schwer zu erkennen.

Ein anderer Satz in Sheraton’s Buch ist viel bedenklicher:

The Marbach-born Jewish poet Friedrich Schiller (1759-1805), whose poems were banned by the Nazi regime, was previously honored by way of two food specialties, both called Schillerlocken.

An diesem Satz stimmt – von Schillers Geburtsort abgesehen – buchstäblich nichts. Wie um Himmels willen kommt Sheraton auf die Idee, daß Schiller Jude war? Und daß seine „Gedichte“ vom Naziregime verboten wurden? Im Gegenteil, Schiller wurde von Anfang an von den Nationalsozialisten als eines ihrer großen Vorbilder betrachtet. An seinem Geburtstag fand jedes Jahr in Marbach eine „Schillerfeier“ statt, und im „Schillerjahr“ 1934 las man aus Anlaß seines 175. Geburtstags unter anderem dies (zit. nach Joseph Wulf, Literatur und Dichtung im Dritten Reich, S. 392-94):

Schiller als Nationalsozialist! Mit Stolz dürfen wir ihn als solchen grüßen. Mit Stolz und Dankbarkeit. Der Nationalsozialismus schöpft aus den gleichen, ewigen Kraftquellen deutscher Art, aus denen auch Schiller schöpfte. In seinem Werke aber hat der Dichter dem erwachenden Deutschland eine weitere unversiegbare Kraftquelle hinterlassen. Aus ihr wollen wir schöpfen und trinken. Aus ihr wollen wir auch unseren dürstenden Volksgenossen Kraft spenden. Unaufhaltsam marschieren unsere Kampfkolonnen. Kameraden, die den Opfertod starben, und die Toten aus den Kriegen der deutschen Vergangenheit „marschieren im Geist in unseren Reihen mit“. An der Spitze aber, dem leuchtenden Hakenkreuzbanner voran Schreiten Seite an Seite mit den lebenden Führern die großen Geister, deren Leiber die Erde deckt. Aufrecht und stolz ragt unter ihnen die Lichtgestalt Friedrich Schillers hervor.
(Hans Fabricius)

In Schillers soldatischer Natur lebt jener echte Ordensgeist, der auf Unterwerfung und Gehorsam heldischer Kriegernaturen gerichtet ist. Von hier erst erschließt sich Schillers überragende Bedeutung als eines politischen Dichters. Er hat nicht nur das politische Drama der Deutschen begründet, indem er als erster Deutscher große Geschichte, Weltgeschichte von inneren Erlebnissen her bewegte und durchgestaltete; er hat in dieses Drama eine wahrhaft politische, echt geschichtsschaffende Kraft einfließen lassen, indem er es mit Willensentscheidungen und überindividuellen Überwindungen, mit Todesentschlossenheit und Einsatzwilligkeit, mit Härte und Schicksalstrotz, mit bewusster Wahl des Untergangs und heldisch-feierlichem Sterben anfüllte.
(Walther Linden)

Einzige Ausnahme inmitten dieser grotesken Einverleibung war der Wilhelm Tell. Er durfte von 1941 an auf ausdrücklichen Wunsch des Führers nicht mehr aufgeführt werden, auch aus dem Kanon der Schullektüre wurde er gestrichen. Der Mord an einem Tyrannen sollte auf deutschen Bühnen nicht mehr gefeiert werden.

Das alles hätte auch Mimi Sheraton mit ein paar Mausklicks in Erfahrung bringen können.

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„Eine andere Blondine“

Manchmal stößt man selbst in einer so seriösen Zeitung wie der F.A.Z. auf ein Wort, das befremdet. So hat vor einigen Tagen Michaela Wiegel, die Frankreich-Korrespondentin, in einem Artikel über die französische Präsidentenwahl im nächsten Jahr (hier nachzulesen) folgendes geschrieben:

Eine Frau im Elysée-Palast? Bislang dachten die Franzosen dabei sofort an Marine Le Pen, die bei der Präsidentenwahl im nächsten Jahr zum dritten Mal für das höchste Staatsamt kandidiert. Doch nun drängt sich eine andere Blondine nach vorn: Die 54 Jahre alte Valérie Pécresse, die rechtsbürgerliche Regionalpräsidentin der Hauptstadtregion Île-de-France, hat am Donnerstagabend zur besten Sendezeit ihre Präsidentschaftskandidatur erklärt.

„Eine andere Blondine“ also. Aber was will uns der Dichter damit sagen – außer daß die beiden Kandidatinnen die gleiche Haarfarbe haben? Was wird da angedeutet, insinuiert? „Blondine“ ist ja keineswegs einfach nur eine „blonde Frau“, wie die Dudenreaktion meint. Wörter haben oft unsichtbare Konnotationen, sie können bewundernd oder abwertend gemeint (und verstanden) werden, überhaupt sind sie selten eins zu eins mit ihrer Definition identisch. Und das Wort „Blondine“, das noch in der Mitte des vergangenen Jahrhunderts eine durchaus positive Konnotation besaß, ist spätestens seit den „Blondinenwitzen“ eher herabsetzend gemeint und bezeichnet, jedenfalls für viele Sprecher, auch heute noch ein naives Dummchen.

In diesem Sinne ist es völlig unverständlich, warum die Redakteurin der F.A.Z. die beiden Politikerinnen als „Blondinen“ bezeichnet. Hätte es sich bei den Kandidaten um Männer gehandelt, wäre sie sicher nicht auf die Idee gekommen, von „dem anderen Schwarzhaarigen“ zu sprechen.

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Das Kontinent

Alan Posener zitierte vor einigen Wochen in der Online-Ausgabe der ZEIT die folgenden Zeilen aus Goethes Gedicht „Den Vereinigten Staaten“:

Amerika, du hast es besser,
Als unser Kontinent, das alte,
hast keine verfallene Schlösser
und keine Basalte.

Posener bemerkte dazu:

So reimte Deutschlands Dichterfürst 1827, und man muss feststellen: Goethe, du hattest es besser. Um den Reim auf „Basalte“ zu ermöglichen, veränderte er einfach das Geschlecht des Worts „Kontinent“.

Das ist natürlich falsch. „Kontinent“ (oder „Continent“) ist in der Goethezeit vielerorts als Neutrum aufgefaßt worden. In Goethes Briefen heißt es mehrfach „das Continent“, zum Beispiel in seinem Brief an Zelter vom September 1828:

Bey niederem Barometerstande häufen sich Wolken auf Wolken, der Westwind treibt sie von dem Meere in das Continent hinein, wo zugleich auf der bewässerten Erdfläche Nebel genug aufsteigen und Wolken sich bilden und nach Osten immer vorwärts getrieben werden.

Ähnliche Neutra findet man zum Beispiel 1809 bei Arnold Heeren („das Continent von Asien“), im selben Jahr bei Adam Christian Gaspari („Australien zerfallt in zwey Haupttheile: das Continent und die Inseln“ oder „Amerika, ein besonderes Kontinent“), 1815 bei Friedrich Philipp Wilmsen („ein drittes Continent“) und an vielen anderen Stellen. Offenbar wurden Maskulina und Neutra über längere Zeit parallel verwendet, bevor sich die männliche Form endgültig durchsetzte.

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