Friedells „Kulturgeschichte der Neuzeit“ – Eine Entdeckung

Ich habe lange kein so interessantes, anregendes Buch gelesen wie Egon Friedells Kulturgeschichte der Neuzeit. Friedell (1878-1938) war das, was man früher einmal einen Universalgelehrten genannt hat. Er hatte aber nicht nur ein umfassendes Wissen, er war auch ein höchst origineller Kopf und ein brillanter Stilist. Zu lesen, wie er auf den 1.571 Seiten meiner Ausgabe „Die Krisis der europäischen Seele von der Schwarzen Pest bis zum Ersten Weltkrieg“ beschreibt, ist ein geistiges Vergnügen der ganz besonderen Art – es ist, als ginge man mit einem klugen Mann spazieren, der gutgelaunt und mit Charme und Esprit über ein halbes Jahrtausend europäischer Kultur plaudert, ohne daß auch nur ein Moment der Langeweile aufkommt.

Nehmen wir einmal Raffael.

War Raffael nicht, so fragt er in dem Kapitel über die italienische Renaissance, einer der vollkommensten Maler? Und er antwortet: „Zweifellos.“ Aber:

Die Vollkommenheit Raffaels ist es ja gerade, die ihn uns so fern, so fremd und stumm macht. „Das Unzulängliche ist produktiv“, lautet einer der tiefsten Aussprüche Goethes. Alles Ganze, Vollendete ist eben vollendet, fertig und daher abgetan, gewesen; das Halbe ist entwicklungsfähig, fortschreitend, immer auf der Suche nach seinem Komplement. Vollkommenheit ist steril.

Und er fügt hinzu:

Diese Ansicht, daß die Darstellung des Vollkommenen die Aufgabe der Kunst sei, war der Grundirrtum Raffaels; und der Grundirrtum des ganzen Klassizismus. Immer wieder tauchen von Zeit zu Zeit große Künstler auf, die uns vorübergehend zu beweisen scheinen, daß Klassizismus, das heißt: strenge Ordnung, Einheit, Gradlinigkeit, Harmonie, farblose Durchsichtigkeit die Blüte jeder Kunst sei. In der Tat: manche „klassische“ Schöpfungen sind bisweilen von einer so übernatürlichen, unwirklichen Schönheit, daß wir für den Augenblick geneigt sind, zu vermuten, dies sei die Spitze der Kunst und alles andere nur ein mehr oder minder unvollkommener tappender Versuch nach diesem Gipfel hin. Es ist aber eine Täuschung. Diese Phänomene sind nicht etwa die Verkörperung der Regel (was man glauben könnte, wenn man bedenkt, daß sie die regelmäßigsten sind); sie sind im Gegenteil interessante Abweichungen, bewunderungwürdige Monstra. Unregelmäßigkeit ist das Wesen der Natur, des Lebens, des Menschen.

Wir betrachten klassische Schöpfungen mit Staunen und Verehrung wie Gletscher, aber wir möchten nicht dort wohnen und können es auch gar nicht.

In diesem klaren, immer wieder überraschenden Stil geht es weiter, Absatz für Absatz, Seite für Seite.

Man kann nicht aufhören, wenn man einmal mit dem Lesen angefangen hat.

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