Thomas Mann und das Gendern

Nein, Thomas Mann hat nicht gegendert – schon der Gedanke daran ist absurd. Aber sehen wir uns doch erst einmal zwei Beispiele seiner (beispiellosen!) Sprachkunst an. So beschreibt er in der Erzählung Mario und der Zauberer Cipolla, den Protagonisten seines kleinen Prosawerks:

An der Rampe stehend und sich mit lässigem Zupfen seiner Handschuhe entledigend, wobei er lange und gelbliche Hände entblößte, deren eine ein Siegelring mit hochragendem Lasurstein schmückte, ließ er seine kleinen strengen Augen, mit schlaffen Säcken darunter, musternd durch den Saal schweifen, nicht rasch, sondern indem er hie und da auf einem Gesicht in überlegener Prüfung verweilte – verkniffenen Mundes, ohne ein Wort zu sprechen.

Und über die Fürstin bemerkt er in der gleichen Erzählung, daß ihre „Lippen korallenrot aufgehöht“ waren. Thomas Mann war ein Meister des Adjektivs, vielleicht unser größter.

Wenn ich heute mit wachsendem Entsetzen beobachten muß, wie erwachsene Menschen (und nicht nur Kinder und Jugendliche!) mit ein paar Wörtern wie „toll“, „super“ und „mega“ auskommen, also im Grunde, statt sprachlich erwachsen zu werden, ihre Kindersprache beibehalten, dann verheißt das nichts Gutes für den geistigen Zustand unseres Landes – ganz zu schweigen von jenem (knappen) Drittel der Gesellschaft, das sich offenbar bei der Zerstörung der eigenen Muttersprache durch das barbarische Gendern recht wohlzufühlen scheint.

Und praktisch alle diese Menschen haben acht oder neun Jahre den Deutschunterricht besucht, sie haben ihr Abitur bestanden und bevölkern heute unsere Universitäten. Hat ihnen nie jemand beigebracht, was für ein Glück es ist, solche Sätze wie den von Thomans Mann zu lesen? Überhaupt: gute Literatur zu lesen? Ist da nie ein Funke übergesprungen? Hat ihnen nie jemand erklärt, daß auch für jedes große Werk der Literatur das tua res agitur gilt, daß diese Werke ihr Leben bereichern und beglücken und sie sogar zu besseren Menschen machen können (zu gebildeteren sowieso)?

Ja, das kostet ein bißchen Mühe und Arbeit, aber der Gewinn ist unendlich groß. Wenn man es freilich den Schülern immer leichter macht und jede Schwierigkeit von ihnen fernhält, nimmt man ihnen auch das Glück, geistig und seelisch zu wachsen, zu reifen. Die Folgen sieht man heute überall, wo sich Menschen mündlich oder schriftlich ausdrücken – es ist oft zum Gotterbarmen.

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