Reichskristallnacht oder Novemberpogrom?

Und wieder ist ein Wort, das einen das ganze Leben begleitet hat, zum Tabu geworden: „Reichskristallnacht“.

Natürlich waren die Ereignisse in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 ein Pogrom – ein von den Nazis zentral gesteuertes Pogrom, bei dem Synagogen verwüstet, jüdische Geschäfte zerstört und Hunderte von Juden ermordet wurden. Aber dieses Pogrom hatte schon kurze Zeit später im Volksmund einen (wahrscheinlich in Berlin entstandenen) sarkastischen Namen: eben Reichskristallnacht.

Mit diesem Namen ist das Ereignis auch schon immer von der Geschichtsforschung bezeichnet worden – bis das Zeitalter der political correctness angebrochen ist. Auf einmal war das Wort (vor allem in der DDR) eine „Verniedlichung“, die es auszumerzen galt. Dabei hätte man schon an der Vorsilbe „Reichs-“ den sarkastischen Unterton erkennen können. Daß einige Nazis (die ja meistens eh nicht sehr helle im Kopf waren) diesen Sarkasmus nicht verstanden und das Wort dann für ihre Propaganda mißbraucht haben, ändert daran kein Jota. Wenn jetzt freilich auch gestandene Historiker und Politiker diese ironisch gemeinte Vorsilbe in das – vermeintlich! – neutrale Wort „Reichspogromnacht“ integrieren, dann ist das geradezu grotesk und zeugt von einem nur rudimentär vorhandenen Sprachgefühl.

Aber wir leben halt in einer Zeit der Sprachzensoren.

So wie jeder halbe Analphabet im Internet Doktorarbeiten beurteilen kann, so fühlen sich auch immer mehr Menschen berufen, aus unserer schönen Sprache (die ja gerade auch deshalb so schön ist, weil sie in ihrer langen Geschichte zum Wildwuchs geworden ist!) ein „gerechtes Deutsch“ zu machen. Jeder glaubt, er könne an der Sprache herumpfuschen, sie „verbessern“, politisch unkorrekte Wörter beseitigen und überhaupt: jeden Makel aus ihr entfernen.

Kann man das? Natürlich nicht. Auf lange Sicht weiß die Sprache sich dagegen zu wehren, denn Sprachen haben etwas so Urwüchsiges, Vitales, daß die Zensoren sich an ihnen die Zähne ausbeißen. Aber die Eingriffsversuche nehmen zu – und leider auch die Fälle, in denen amtliche und halbamtliche Stellen und vor allem Medien ihrem Drang zur Sprachverbesserung freien Lauf lassen. Auch die Germanisten, die für die sog. „Neue Rechtschreibung“ verantwortlich waren, hätten vor ihrem Tun einmal überlegen sollen, was sie anrichten.

Aber trösten wir uns damit, daß die Sprache am Ende stärker – und klüger! – ist als ihre oft großspurigen Verbesserer.

Dieser Beitrag wurde unter Politik, Sprache und Literatur veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert