Edward Snowden – Held oder Verräter? Oder irgendetwas dazwischen?

Daß Edward Snowden, über dessen Verbleib nach seiner Landung in Moskau noch nichts bekannt ist, etwas verraten hat, liegt auf der Hand. Aber ist er deshalb schon ein Verräter?

Sein Fall wird selbst in den USA kontrovers beurteilt. Nach einer Meinungsumfrage, die freilich noch vor Snowdons Flucht nach Hongkong gemacht wurde, ist etwa die Hälfte der Amerikaner für, die andere Hälfte gegen die gigantischen Abhörmaßnahmen des Geheimdienstes. Auch bei uns zuhause haben wir uns nicht einigen können. Alles hängt davon ab, ob man eher auf die Abwehr terroristischer Anschläge oder auf die unbedingte Erhaltung von Freiheit und Rechtsstaat setzt.

Ich neige zur zweiten Option, und das aus einem, so glaube ich zumindest, guten Grund. Der Rechtsstaat, der die persönlichen Freiheiten garantiert, ist eine der wichtigsten Grundlagen unserer Demokratie. Es hat viele Opfer gekostet, bis er errungen war, und er ist, wie alle erkämpften Freiheiten, immer aufs neue bedroht. Und noch etwas sollte man nicht vergessen: alle Freiheiten, die sich unsere Vorfahren erkämpft haben (und von denen wir heute noch profitieren!), sind in den Verfassungen festgeschrieben worden, um die Machtgelüste des Staates im Zaum zu halten. Daß es solche Machtgelüste heute nicht mehr gibt, ist ein reichlich naiver Märchenglaube. Obama ist sicher ein redlicher Mensch – aber hatten wir nicht auch schon einmal einen Präsidenten mit dem Namen Nixon, der tief in kriminelle Aktionen verstrickt war? Auch Frau Merkel ist sicher eine redliche Kanzlerin, aber was, wenn es einmal einen Kanzler anderen Schlages gibt?

Und noch eine kleine bedenkenswerte Überlegung. Stellen Sie sich einmal vor, den Nazis hätten schon das Internet und die heutige Überwachungsmöglichkeiten zur Verfügung gestanden. Wieviele zusätzliche Opfer hätte das wohl gekostet? Und wieviel effizienter und grausamer wäre die Stasi vorgegangen, hätte sie diese Möglichkeiten schon gehabt?

Das alles kann man nicht als Geschichte abtun. Wenn eine Abhörtechnologie solcher Dimension einmal in der Welt ist, wird sie nicht nur von edlen Politikern zum Wohle des Volkes gebraucht, sie wird mit Sicherheit bald auch von viel weniger edlen Politikern für ganz andere Ziele mißbraucht. Das muß verhindert werden.

Seit der Magna Charta des Mittelalters geht es in allen Verfassungen der Welt um den Schutz der persönlichen Freiheit gegen den Staat. Deshalb darf heute kein Polizist ohne eine richterliche Anordnung in eine Wohnung eindringen, und jede Abhörmaßnahme muß von einem Richter genehmigt werden. Ähnliche Freiheitsrechte finden sich in fast allen demokratischen Verfassungen der Welt – auch in England und den USA.

Aber was haben diese Verfassungen noch für einen Sinn, wenn ausländische Geheimdienste ohne jede richterliche Genehmigung – also mit einer Art Blankovollmacht – die gesamte Kommunikation von zehn oder hundert Millionen Bürgern lückenlos überwachen können? Und sie können es nicht nur, sie tun es auch! Was nutzt es mir dann noch, daß nach unserem Grundgesetz eine Abhörung durch den Staat in jedem einzelnen Fall von einem Richter angeordnet werden muß, wenn gleichzeitig die Geheimdienste von Cameron und Obama meine Telefonate aufzeichnen, meine Chats und E-Mails lesen und jede meiner Spuren im Internet verfolgen?

Es mag sein, daß am Anfang dieser Abhörorgie, die in der Geschichte ohne Beispiel ist, gute Absichten gestanden haben. Aber inzwischen hat sich das millionenfache Abhören offenbar verselbständigt. Und selbst wenn die guten Absichten immer noch da wären – es ändert nichts daran, daß dadurch die Rechte und Freiheiten der Bürger in allen betroffenen Ländern massiv, dauerhaft und hinter ihrem Rücken außer Kraft gesetzt worden sind.

Snowden mag im übrigen kein Held sein, aber es ist sein Verdienst, daß er die schier unglaubliche Dimension dieser Überwachung öffentlich gemacht hat. Ist er ein Verräter? Nein.

Verrat – nämlich einen Verrat an unseren persönlichen Freiheitsrechten, die zum Kernbestand der Demokratie gehören! – begehen jene, die sich das Recht herausnehmen, ohne Grund, ohne Verdacht und ohne Einzelfallprüfung jede unserer Äußerungen zu belauschen und aufzuzeichnen. Daß alle diese Daten ausschließlich dem Aufspüren von Terroristen dienen und dann brav wieder gelöscht werden, mag glauben, wer will.

Jede Erfahrung spricht dagegen.

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