Hat Gertrud Höhler doch recht?

Mein erster Eindruck, als ich den Vorabdruck von Höhlers Buch „Die Patin“ in der F.A.Z. las, war zwiespältig. In vielem sprach sie mir aus dem Herzen, aber dann waren wieder diese Übertreibungen, Zuspitzungen, die fast beleidigend waren. So kommt man, dachte ich damals, dem „System Merkel“ eben nicht bei. Wer sie so dämonisiert, macht sie nur mächtiger. Nein, sie war Kohls Lehrmädchen, sie hat lange geschwiegen und zugeschaut und gelernt, aber als ihre Zeit gekommen war, hat sie – wenn man es so dramatisch ausdrücken will – zugeschlagen.

Ihren Meister hat sie dabei längst übertroffen.

Wie gesagt, vieles an Höhlers Urteilen klingt übertrieben und weist der Kanzlerin, die von einer Mehrheit in der Bevölkerung als starke, aber auch als unaufgeregte und ausgleichende Politikerin gesehen wird, zu Unrecht einen fast diabolischen Charakter zu.

Und doch – etwas stimmt an Höhlers Einschätzung.

Erstens ist es der chamäleonhafte Farbwechsel der Kanzlerin. Auch nach vielen Jahren kann man bei ihr kein festes geistiges Fundament erkennen, keinen Kompaß, der ihr (und uns!) die Richtung weist. Egal ob es um Familien-, Energie- oder Europapolitik geht, sie wechselt ihre Meinungen oft abrupt, ohne die Partei erst diskutieren zu lassen. Das ist nicht gut für die CDU, es ist aber auch nicht gut für die Demokratie. Bei dieser Kanzlerin wirkt alles irgendwie beliebig, deshalb kommt es kaum mehr zu großen Grundsatzdiskussionen, die aber – auch in unserer Zeit – von enormer Wichtigkeit sind. Seit dem Bestehen der Bundesrepublik hat es in unserem Land immer wieder solche Diskussionen gegeben, etwa zur Wiederbewaffnung und zum KPD-Verbot, zur Bildungsreform oder zu den Ostverträgen. Diese großen und wichtigen gesellschaftlichen Diskussionen, an denen sich immer auch Schriftsteller und Intellektuelle  beteiligt haben, sind schon unter Kohl und erst recht unter Merkel fast ganz verschwunden. Beide Kanzler wirken fast erdrückend auf den öffentlich Diskurs, an dem sie offenbar (anders als etwa Willy Brandt) überhaupt kein Interesse haben.

Zweitens besteht Merkels Europapolitik offenbar in einer amateurhaften Flickschusterei. Erst soll Griechenland keinen Cent von uns bekommen, dann gewährt man dem Land Milliardenkredite. Erst will man es loswerden, dann soll es doch bleiben, dann will man es (vielleicht) doch loswerden – das ist alles ohne Sinn und Verstand. Entscheidungen werden von einem Tag auf den andern gefällt und wieder umgestoßen, und wie bei der noch viel unbegreiflicheren Energiepolitik bleibt die Bevölkerung, die doch in beiden Fällen am Ende die Zeche zahlen wird, genauso ungefragt wie die CDU.

Noch schlimmer und gefährlicher aber ist ein Plan der Kanzlerin, den jetzt der SPIEGEL ans Licht gebracht hat. Noch in diesem Jahr soll in Brüssel der Termin für einen sog. „Konvent“ festgelegt werden, der dann „ein neues rechtliches Fundament für die EU“ ausarbeiten soll. Ziel ist es, durch einen neuen Zentralismus praktisch die Hoheit der einzelnen europäischen Parlamente über ihren eigenen Etat – also eines der wichtigsten und vornehmsten Rechte des Parlaments! – auszuhebeln.

Dadurch könnte beispielsweise der Europäische Gerichtshof das Recht erhalten, die Haushalte der Mitgliedsländer zu überwachen und Defizitsünder zu bestrafen.

Ein freigewähltes Parlament, das unter der Kuratel eines Gerichtshofs steht? Schon der Gedanke ist ungeheuerlich, aber er zeigt auch (und deshalb muß man Frau Höhler doch in vielem recht geben!), daß die Kanzlerin von einer bestürzenden Geschichtslosigkeit ist. Das politische Europa soll administrativ herbeigemauschelt werden, an den Völkern vorbei, die – da bin ich sicher – in ihrer übergroßen Mehrheit nicht bereit sein werden, ihre Souveränität an den Moloch EU abzugeben. Warum auch?

Eines steht aber fest: hier soll die Souveränität der Parlamente von oben beschnitten werden – so kann niemals ein freies, selbstbewußtes, auf seine Geschichte und Kultur stolzes Europa entstehen.

Auf die Merkelsche Weise wird nur eine weitere bürokratische Mißgeburt, ein neues juristisches Monstrum zustandekommen, und der Zorn der Bürger, die ungefragt weitere Rechte abgeben müssen, wird eher noch größer werden. Man kann den Bürgern Europa doch nicht amtlicherseits aufoktroyieren!

Frau Merkel hat für das wirkliche Europa, das untrennbar mit seiner Geschichte, seiner Kultur, seinen vielen Sprachen und auch seinen Unterschieden verbunden ist (Martin Walser hat es vor ein paar Tagen sehr schön beschrieben), sie hat – man muß es leider sagen – für dieses Europa nicht das geringste Gespür, ganz anders als ihr Ziehvater Helmut Kohl. Die Entmachtung der Parlamente, die sie sich wohl als eine Art freiwillige Selbstbeschneidung vorstellt, hat nur ein einziges Ziel: sie soll die Euro-Krise ein für allemal beenden. Wenn die Kanzlerin an Europa denkt, geht es nämlich immer nur um die Wirtschaft und die Finanzmärkte. Aus dieser Einstellung rührt auch ihr Mantra her:

Scheitert der Euro, dann scheitert Europa.

Es ist der dümmste Satz, den ich je aus dem Munde eines Bundeskanzlers gehört habe.

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