Was haben Ai Weiwei und Dominique Strauss-Kahn gemeinsam? Sie sind in Gewahrsam. Aber was heißt das – Gewahrsam?
Der Duden klärt uns kurz und bündig auf: Gewahrsam sei
veraltet für Gefängnis.
Aber das ist doch ein bißchen sehr kurz und ein bißchen sehr bündig.
Das Wort ist alt, das sieht man ihm an. Und es war zuallererst bloß ein (heute nicht mehr gebrauchtes) Adjektiv: wer gewahrsam war, der war aufmerksam, wachsam, auf lateinisch cautus. Von einem Hund heißt es im 18. Jahrhundert, er sei „ein fleisziger und getreuer, gewahrsamer hüter“. Das Landrecht von 1616 empfiehlt deshalb auch, mit dem Feuer „gewarsam“ umzugehen. Ein gewahrsamer Ort war ein sicherer Ort. „Wir wollen“, schreibt Simon Schaidenreisser im 16. Jahrhundert, „ietz dein hab und gut an ain gewarsames ort bringen, damit dir nichts entragen werde.“
Ist also Ai Weiwei, der sich nach den Agenturberichten im „Gewahrsam“ der chinesischen Behörden befindet, an einem sicheren Ort? Das muß bezweifelt werden.
Irgendwann hat man von dem Adjektiv ein Substantiv abgeleitet. Es war erst ein Femininum, später wurde es zum Neutrum oder Maskulinum. Also: der, die oder das Gewahrsam. Die Bedeutungsentwicklung wird nun allmählich, wie es im Grimmschen Wörterbuch heißt, „unübersichtlich“. Jedenfalls drängt sich aber immer mehr die Bedeutung „sicherer Ort“ in den Vordergrund. Goethe schreibt noch in einem Brief von 1821, daß „das schon lange in meinem gewahrsam sich befindende manuscript gestern mit dem postwagen abgegangen“ sei.
Immer öfter wird aber jetzt als lateinische Entsprechung custodia genannt, was zwar zunächst nur „achtsame Fürsorge“ bedeutet, dann aber auch die fürsorgliche Bewachung in einem Gefängnis. Aus dem „sicheren Ort“ ist nun also ein „verschlossener Raum“, ein Gefängnis geworden. Eine Frauensperson, so steht es in einem Heidelberger Polizeibericht von 1899, „wurde wegen trunkenheit in polizeilichen gewahrsam genommen“.
Wer jetzt „verwahrt“ wird, hat also seine Freiheit verloren. Wie sicher der Ort des Gewahrsams ist, hängt dann natürlich von den rechtlichen Zuständen im Lande ab. Auf jeden Fall sollte man das Wort vermeiden, wenn man von der bloßen Unterbringung in einem Gefängnis spricht.
Ob jemand (wie Strauss-Kahn) mit allen Möglickeiten zu rechtsstaatlicher Verteidigung in den USA inhaftiert ist oder (wie Weiwei) als Opfer einer kommunistischen Willkürjustiz verschleppt und an einem unbekannten Ort gefangengehalten wird, macht einen großen Unterschied aus.
Dieser Unterschied sollte nicht mit dem Wort „Gewahrsam“ eingeebnet werden.