Niemand kann bestreiten, daß dieser Brauch uralt ist, wie es der Regierungssprecher Seibert heute sagte – übrigens erst, nachdem die Konferenz Europäischer Rabbiner das Urteil scharf kritisiert hatte. Der Moskauer Rabbiner Pinchas Goldschmidt meinte gar, es handle sich um den „vielleicht gravierendsten Angriff auf jüdisches Leben in Europa nach dem Holocaust“.
Aber ist das Alter eines religiösen Brauchs wirklich ein Argument? Es hat viele alte, religiös begründete Bräuche gegeben, von denen wir uns glücklicherweise verabschiedet haben: die Verbrennung von Hexen, die Genitalverstümmelung von Mädchen, Teufelsaustreibungen und vieles mehr. Daß ein Brauch alt ist und religiös begründet wird, macht ihn doch nicht sakrosankt!
Wenn er freilich nur geringfügig in das Leben eines Menschen eingreift und zum Kernbestand der Religion gehört, mag man anders darüber denken. Ich muß geschehen, daß ich da zwiegespalten bin. Niemand in Deutschland – von rechtsradikalen Wirrköpfen abgesehen – will doch, daß hier kein jüdisches Leben mehr stattfinden soll, nachdem es endlich wieder gute Ansätze dazu gibt. Aber unsere Gerichte sind nun einmal unabhängig, Gott sei Dank! Man kann, wenn man ein Urteil für fehlerhaft hält, alle Instanzen ausschöpfen, man kann bis zum Bundesverfassungsgericht und sogar vor den Europäischen Gerichtshof gehen, und natürlich kann der Gesetzgeber versuchen, die Lage durch ein neues Gesetz rechtlich eindeutiger machen.
Aber auch dann hat das Bundesverfassungsgericht, das sich seine Entscheidungen noch nie leicht gemacht hat, das letzte Wort. Es geht hier eben um mindestens drei Grundrechte, die gegeneinander abgewogen werden müssen: das Recht auf körperliche Unversehrtheit, das Elternrecht und das Recht auf freie Religionsausübung. Da ist ein fast schon salomonisches Urteil gefragt. Wir werden sehen, ob man in Karlsruhe salomonisch genug ist. Bis dahin mögen Juden und Muslime ihre Knaben beschneiden lassen, wenn es ihnen denn so wichtig ist.
Für mich haben solche Rituale etwas sehr Archaisches. Ich verstehe nicht, warum Gott (oder Allah) soviel daran liegen soll, dieses kleine Stückchen Haut wegzuschneiden. Mir kommt das viel eher menschlich als göttlich vor. Und ich bin froh, daß es im christlichen Glauben – vor allem dank Paulus! – diese Buch- und Gesetzesfrömmigkeit mit ihren tausend Vorschriften nicht mehr gibt.
Was hat denn, so frage ich mich, um Himmels willen die Vorhaut eines Jungen mit der Religion zu tun?