Ein Briefsteller – ich habe ja schon einmal darüber geschrieben – ist ein Buch mit Musterbriefen für alle Gelegenheiten. Solche Bücher waren im 19. Jahrhundert sehr beliebt, inzwischen gibt es sie so gut wie gar nicht mehr.
Heute will ich aus dem „Vollständigen Universal-Briefsteller“ von F. Brunner einen weiteren Musterbrief zitieren – diesmal ist es der Brief eines Vaters an seinen Sohn:
Lieber Sohn!
Dein Lehrherr beklagt sich bitter darüber, daß Du in letzter Zeit sehr nachlässig und zerstreut geworden seist, und gibt als Grund dafür an, daß Du das Romane Lesen ganz leidenschaftlich treibest und dieser Leidenschaft sogar einen großen Teil Deiner Geschäftszeit opferst. Das ist nicht gut, mein Sohn! Du wirst Dich noch erinnern, wie ich über das Romane Lesen denke. Es dient jungen Leuten weder zur Wissens- noch zur Herzensbildung, sondern es zieht ab von allem ernstlichen Streben. Es füllt unreife Köpfe mit allerlei überspannten Gedanken und unreinen Phantasiebildern. Es lähmt die Arbeitskraft und weckt Genußsucht. Schon mancher junge Mensch ist durch diese Leidenschaft ein Schlemmer und Wüstling geworden.
Ich bin Deinem Lehrherrn sehr zu Dank verpflichtet, daß er mir von Deiner Verirrung Kenntnis gegeben hat, und ich habe ihn gebeten, mit aller Strenge Dich zur Erfüllung Deiner Pflichten anzuhalten. Ich warne Dich zum letzten Mal in dieser Sache und hoffe, daß Du meine Warnung beherzigst, sonst müßte ich andere Maßregeln ergreifen.
Dein Vater
J. Brecht.
„Das Romane Lesen“ – das sieht fast ein bißchen nach der neuesten Rechtschreibung aus!