Nur ein paar Gedanken zum Lynchaufruf in Emden.
Es ist eigentlich eine Selbstverständlichkeit, daß zur Freiheit auch Verantwortung gehört. Wenn ich die Freiheit habe, dies zu tun und jenes zu lassen, und wenn ich mich dann für eine der Möglichkeiten entscheide, dann habe ich das auch zu verantworten.
Natürlich bin ich – im Prinzip – frei, alles zu tun: ich kann Gutes tun, ich kann aber auch meinen Nächsten umbringen. Im ersten Fall wird es, was die Verantwortung betrifft, keine großen Probleme geben, im zweiten schon. Der Freiheit sind ja Grenzen gesetzt – erst einmal durch das eigene Gewissen. Das ist eine wenig faßbare Instanz, aber man sollte sie auch nicht unterschätzen. Ich glaube nämlich, die meisten schlimmen Dinge werden nicht durch eine Strafandrohung des Gesetzgebers verhindert, sondern – sozusagen schon im Keim – durch den Einspruch des Gewissens. Ob dieses Gewissen jetzt etwas von Gott in den Menschen Eingepflanzes ist (wie es ein religiöser Mensch sagen würde), oder eine dem Menschen natürlich innewohnende Moral, oder ob sie gar mit dem Freudschen Über-Ich identisch ist, das können (und müssen) wir an dieser Stelle offenlassen. Fest steht, daß es diese Instanz gibt, und daß sie recht wirkungsvoll ist.
Wenn mein Gewissen aber schwach ausgebildet ist, dann muß ich mich immerhin noch vor dem Gesetz verantworten. Je nach der Schwere meiner Schuld drohen mir empfindliche Strafen. Meine Freiheit, anderen Menschen wehzutun, sie zu kränken oder sie gar zu verletzen oder zu töten, ist also niemals grenzenlos.
Was aber, wenn mein Gewissen schweigt und wenn ich auch dem Gesetz gegenüber unangreifbar bin? Wenn ich sicher sein kann, daß ich ungestraft böse sein darf?
Diese Fälle mehren sich – vor allem im Internet. Das jüngste Beispiel ist der junge Mann, der in miserablem Deutsch, aber mit großer Wirkung in Emden fast unverhüllt zur Lynchjustiz an dem mordverdächtigen Jugendlichen aufgerufen hat. Ein Mob, der nach den Pressemeldungen zwischen 50 und 100 junge Männer umfaßt haben soll, wollte bis zum frühen Morgen vor der Polizeistation in Emden die „Herausgabe“ des „ehrenlosen Hundes“ erzwingen (ich habe darüber berichtet).
Jetzt hat sich herausgestellt, daß der Verdächtige nachweislich unschuldig ist. Sehe ich im Internet jetzt Gewissenserforschung, Nachdenklichkeit? Kommen die jungen „Wutbürger“ vielleicht ins Grübeln, was sie da beinahe angerichtet hätten?
Nicht die Bohne! Die Wut richtet sich jetzt in den Internetforen auf die Polizei, weil die ihnen den falschen Mann zum Lynchen serviert hat. Eine regelrechte Westernmentalität ist da ausgebrochen. Unschuldsvermutung? Rechtsstaat? Kennwernicht, brauchnwernicht. Wir haben doch unsere Fäuste!
Wir haben hier also zwei Entwicklungen, die sich leider an einem Ort (der leider kein locus amoenus mehr ist, wenn er denn je einer war!), nämlich dem Internet, in gefährlicher Weise vereinigen.
Wir haben einmal eine wachsende Zahl von Jugendlichen und jungen Männern, die moralisch unreif sind (und das ist noch sehr höflich ausgedrückt). Sie geben jedem aggressiven Impuls nach, ohne ihre Großhirnrinde einzuschalten. Warum es bei ihnen nicht zur Reife, zum ethisch verantwortlichen Handeln gekommen ist, darüber kann man lange und trefflich streiten – die Familien werden daran ihren Anteil haben, auch die vater- oder mutterlosen Patchworkfamilien, die von unseren Politikern neuerdings so gelobt (oder sogar gelebt!) werden.
Zum zweiten gibt es seit Jahren einen Aufenthaltsort, der auf den ersten Blick ein Ort der Freiheit ohne Verantwortung ist. Hier können sich Opfer nicht wehren, die Eltern wissen von nichts, und die Polizei tappt fast immer im Dunkeln. Ich kann also, wenn ich nie gelernt habe, alles was ich tue, auch zu verantworten, nach Herzenslust und ungestraft – böse sein. Ich kann Mitschüler peinigen, Lehrer beleidigen, ich kann sogar zur Lynchjustiz aufrufen. Ich kann einfach alles – und muß mich für nichts verantworten.
Ist das die schöne neue Welt? Sie ist es, aber nur für die Täter. Für die Opfer ist es die Hölle. Sie haben zwar alle Rechte, aber sie können sie fast nie durchsetzen.
Wer könnte die Täter an ihrem Tun hindern? Der liebe Gott? Da kommt nur noch ein müdes Grinsen. Die Eltern? Die wissen meist von nichts, oft arbeiten sie den ganzen Tag, da haben sie am Abend nicht mehr die Kraft, ihren Kindern auf die Finger zu sehen. Die Lehrer? Die haben anderes zu tun. Die Polizei? Wie soll die herausbekommen, ob die Verunglimpfungen auf einem Server in Tuvalu oder Tonga liegen?
Genau so entsteht ein ethikfreier Taum, und diese jungen Männer (es sind ja meist Männer, wenn auch nicht immer) bekommen das Gefühl, daß sie alles tun und lassen können, ohne daß man sie – ganz buchstäblich! – zur Verantwortung zieht.
„Freiheit“, so hat es unser neuer Bundespräsident ausgedrückt, „hat einen Namen: Verantwortung.“ Aber wie will ich das einem jungen Mann erklären, der zum Lynchmord an einem „ehrenlosen Hund“ aufruft?
Ich weiß es nicht.
Ich weiß nur, daß der Grund für alles – Gewissen, Verantwortung, Moral – in der Familie, und nur dort, gelegt wird. Schule, Lehrer, Freunde usw. können später manches ausbessern, aber wenn der Grund nicht gelegt wird, ist es schwer, einen Menschen noch zu ändern. Wo Eltern nur noch als Arbeitskräfte interessant sind und so schnell wie möglich dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen sollen, scheitert auch oft die so viel wichtigere Erziehung der Kinder. Deshalb kann man auch nur mit Bedauern beobachten, daß Mütter oder Väter, die sich lieber um die Erziehung ihrer Kinder zu anständigen Menschen als um den Broterwerb kümmern (und dafür große finanzielle Einbußen hinnehmen!), zunehmend von „fortschrittlichen“ (grünen, linken, feministischen) Kreisen als gestrig und hinterwäldlerisch beschimpft werden.
Wer da wirklich fortschrittlich und wer wirklich gestrig ist, das steht für mich fest.