Es gibt ja nicht nur den Völkermord an den Armeniern.
Am 2. Juli 1993 fand in der anatolischen Stadt Sivas ein alevitisches Kulturfestival zu Ehren des Dichters Pir Sultan Abdal statt. Die Stimmung war schon vorher aufgeheizt, denn der türkische Schriftsteller Aziz Nesin, der an der Veranstaltung teilnahm, hatte es gewagt, Salman Rushdies Satanische Verse ins Türkische zu übersetzen.
Nesin und viele andere Teilnehmer der Veranstaltung wohnten in Sivas im Madimak-Hotel. Und dann passierte es. Die zornigen Muslime kamen nach dem sog. Freitagsgebet, das leider in vielen Fällen alles andere als ein „Gebet“ ist, sondern ein Aufputschen von Haßgefühlen, noch zorniger aus der Moschee heraus und versammelten sich vor dem Hotel. Es sollen um die 20.000 Menschen gewesen sein.
Die ersten Brandsätze flogen in das aus Holz gebaute Hotel, das bald lichterloh brannte. Die frommen Muslime ließen es nicht zu, daß irgendjemand aus dem brennenden Hotel flüchten konnte.
Nun könnte man sagen: das war halt eines jener gewöhnlichen Pogrome, wie es sie gegen unbeliebte Minderheiten schon immer gegeben hat. Aber dieses Pogrom war anders. Es fand nicht im finsteren Mittelalter statt, sondern in der Türkei des ausgehenden 20. Jahrhunderts. Die Staatsmacht, in Gestalt von Polizei und Feuerwehr, ließ die mordlüsterne Menge gewähren, ja es gibt sogar deutliche Indizien dafür, daß die Polizei dem Mob behilflich war.
Acht Stunden lang (!) johlten und brüllten die frommen Menschen, ehe die Feuerwehr endlich eingriff – natürlich viel zu spät. Da waren schon 35 Menschen, unter ihnen viele Künstler, bei lebendigem Leibe verbrannt. Der verhaßte Schriftsteller Nesin überlebte verletzt, die meisten anderen hatten weniger Glück. Unter den Toten waren (ich habe ihre Namen der Wikipedia entnommen) unter anderem:
- Muhlis Akarsu (* 1948 in Sivas), Volkssänger und Saz-Spieler
- Metin Altiok (* 1941 in Izmir), Dichter
- Behcet Aysan (* 1949 in Ankara), Dichter, Arzt
- Asim Bezirci (* 1927 in Erzincan), Dichter, Schriftsteller
- Nesimi Cimen (* 1931 in Adana), Volkssänger und Cura-Spieler
- Asaf Kocak (* 1958 in Yozgat), Karikaturist
- Hasret Gültekin (* 1971 in Sivas), Volkssänger und Saz-Spieler
- Edibe Sulari (* 1953 in Erzincan), Volkssängerin.
Besonders widerlich: das Massaker wurde stundenlang live im türkischen Fernsehen übertragen, damit sich auch Menschen, denen die Teilnahme an der Menschenverbrennung versagt war, wenigstens daheim in der Stube daran ergötzen konnten.
Bis heute spricht man in der Türkei nicht von einem Pogrom, sondern von einem „Ereignis“ oder einem „traurigen Vorfall“. Daß man in dem früheren Hotel bald darauf ein Fleischrestaurant eingerichtet und den Gästen dort gegrilltes Fleisch serviert hat, gehört zu den besonderen Schändlichkeiten des türkischen Umgangs mit diesem Pogrom. Erst 2011 wurde in dem Haus – wahrscheinlich im Zuge der Bemühung um die EU-Mitgliedschaft – ein Kulturzentrum mit einer Gedenkstätte eingerichtet.
Nicht wenige der Täter sollen sich noch immer auf freiem Fuß befinden – einige leben, wie man lesen kann, unbehelligt in Deutschland. Einer von ihnen soll, wie die Journalistin Mely Kiyak in der Frankfurter Rundschau schreibt (hier nachzulesen), in Berlin-Neukölln Wettbüros betreiben. Angeblich ist er Asylbewerber.
Zu befürchten hat er nichts mehr, denn die Verjährungsfrist ist am Dienstag abgelaufen.
Warum berichte ich über dieses „Ereignis“, über diesen „traurigen Vorfall“?
Weil der seit 2003 amtierende Ministerpräsident der Türkei, Recep Tayyip Erdogan, gestern – „stellvertretend für das türkische Volk“ – den Steiger Award für 50 Jahre deutsch-türkische Freundschaft in Empfang nehmen sollte (er war wegen eines Hubschrauberabsturzes verhindert). Mit diesem etwas dubiosen Preis sollen übrigens Menschen geehrt werden, die sich (so heißt es wörtlich)
durch Geradlinigkeit, Offenheit, Menschlichkeit und Toleranz auszeichnen.