Peter Sloterdijk ist, solange er in seinem Metier bleibt, ein wortgewaltiger Philosoph (vielleicht ist er als Philosoph sogar noch bedeutender als Richard David Precht). Er hat erfrischend unkonventionelle Gedanken, und es ist immer eine Freude, ihm beim sprachlichen Entwickeln dieser Gedanken zuzuhören. Es gibt nicht viele Köpfe in Deutschland, die aus dem Stegreif so elegante, feinziselierte Sätze zustandebringen. Man hört ihm deshalb gern zu, auch wenn man – wie es mir oft geht – mit seinen gedanklichen Ergebnissen nicht einverstanden ist.
Nun hat er sich also in einem Interview mit dem Nachrichtenmagazin Focus über unseren zukünftigen Bundespräsidenten geäußert (hier findet man ein paar Auszüge).
Viele würden schon jetzt meinen, sagt Sloterdijk:
Merkel und Gauck, so viel politischen Protestantismus haben wir nicht verdient.
Aufgrund seiner „pastoralen Identität“ werde Gauck schon bald vielen Menschen „auf die Nerven gehen“.
An diesen Äußerungen (ich kenne leider nur die wenigen Auszüge, die in der Presse stehen) ist einmal bemerkenswert, daß Sloterdijk nur sagt, was andere („viele“, „viele Menschen“) möglicherweise über Gauck sagen könnten. Das sind mir für einen sonst so unerschrockenen Mann wie Sloterdijk ein paar Konjunktive zuviel. Warum so von der Seite?
Dann – der „politische Protestantismus“! Den vertreten also Merkel und Gauck?
Unsere Bundeskanzlerin kommt zwar aus einer Pfarrersfamilie, aber daß sich in ihrer Politik, noch dazu, wenn man ihre munteren Geißsprünge der letzten Jahre betrachtet, ein politischer Protestantismus niederschlage, kann man doch wirklich nicht sagen. Bei ihr herrscht ein – fast hätte ich gesagt: bodenloser! – Pragmatismus, und daß ihre Politik auf einem festen geistigen (oder gar geistlichen!) Fundament gründet, läßt sich nur schwer behaupten. Ihre unbegreifliche Popularität ist vielleicht gerade diesem Unfaßbaren und deshalb Unangreifbaren bei ihr geschuldet. Ein urprotestantisches „Hier stehe ich, ich kann nicht anders!“ ist von ihr nicht zu erwarten. Nichts Knorriges, Kantiges, Lutherisches ist an ihr, alles wabert weich, es ist eine fast amöbenhafte Politik, die nirgends feste Pflöcke einschlägt, die daher auch bald hierhin, bald dorthin fließen kann. In einer Zeit, der alle großen Orientierungsrahmen verlorengegangen sind, ist sie vielleicht genau die richtige Kanzlerin.
Aber dem „politischen Protestantismus“ (was immer das genau sein mag) kann man sie nun wirklich nicht zurechnen.
Und Gauck? Wird er uns bald „auf die Nerven gehen“? Natürlich wird er das! Und, ganz nebenbei gesagt, ich freue mich schon darauf. So ein Mensch ist mir, auch dort, wo ich ihm energisch widerspreche, hundertmal lieber als ein aalglatter Parteipolitiker.
Aber wird er uns wegen seiner „pastoralen Identität“ auf die Nerven gehen?
Ich weiß ja nicht, wann Sloterdijk das letzte Mal einen protestantischen Gottesdienst besucht hat, aber wenn auch nur zehn Prozent der evangelischen Pfarrer in ihrer ganzen „pastoralen Identität“ so predigen würden, wie Gauck redet und schreibt – die Kirchen wären, glaube ich, wieder prall gefüllt!
Freuen wir uns also darauf, daß uns endlich einmal wieder ein Bundespräsident im guten Sinne auf die Nerven geht.
Und vor allem: lassen wir ihn doch erst einmal Präsident sein, ehe wir vor der Zeit über ihn urteilen!