Man mag es nicht mehr hören: die Redenschreiber legen der Kanzlerin den immergleichen Satz in den Mund, auch vor zwei Tagen hat sie ihn wieder – zum zehnten oder zum hundertsten Mal? – hinausposaunt:
Europa scheitert, wenn der Euro scheitert. Europa gewinnt, wenn der Euro gewinnt.
Kann man sich so viel kindliche Einfalt vorstellen? Herr im Himmel – besteht denn die ganze Welt nur noch aus angehäuftem Geld? Besteht der Wert eines Landes nur noch in seiner Währung? Müssen erst, wie gestern, Menschen wie der Altkanzler Kohl kommen, um der Pfarrerstochter aus der Uckermark zu sagen, daß Europa ein bißchen mehr ist als der Euro? Daß die Drachme zum Beispiel ein Geschichte hat, die weit, weit über den Horizont eines BWL-Studenten oder eines Hedgefonds-Managers hinausreicht?
Es tut mir leid, wenn ich da ein bißchen grob werde, aber ich kann das Geschwafel über das Europa der Banken und Währungshüter nicht mehr hören. Nach dem Krieg hat man – mit Männern wie Schumacher, Adenauer und Carlo Schmid bis hin zu Willy Brandt und mit Frauen wie Hildegard Hamm-Brücher – etwas ganz anderes aufbauen wollen: ein Europa, das seine Geschichte und Kultur ehrt und achtet. Vieles hat man nach der Barbarei des Nationalsozialismus mühsam neu säen müssen, und es hat Kraft und erzieherische Energie gekostet, an die alte, fast untergegangene Kultur anzuschließen. Und da darf jetzt eine Bundeskanzlerin kommen und immer aufs neue sagen, als wäre es ihr Mantra, daß Europa scheitert, wenn der Euro scheitert?
Und das läßt sich die CDU, die nach dem Krieg doch viel zum echten, zum guten, zum kulturellen Europa beigetragen hat, tatsächlich bieten? Darf die Kanzlerin jetzt jeden Unsinn erzählen, ohne daß ihr jemand widerspricht?
Kann ihr nicht jemand einmal ein historisches oder kulturgeschichtliches Privatissimum geben, oder wenigstens ein Briefing, wie man das heute nennt – damit sie endlich begreift, was Europa wirklich ist? Nämlich das: ein kultureller Raum, der seit ein paar tausend Jahren für eine geistige Überraschung nach der anderen gesorgt hat. Dieses alte Europa mit seiner Kultur wird noch lebendig sein, wenn sich niemand mehr an das ganze absurde Theater aus Hedgefonds, Anlageberatern, Ratingagenturen und Währungshütern erinnern wird.
Europa hat weiß Gott genug Grund zu einem Selbstbewußtsein jenseits der Ökonomie.
Da schwadronieren unsere Ökonomen vom „unaufhaltsamen Aufstieg Asiens“ (und meinen ein China, das seine Wirtschaft vor allem auf der rücksichtlosen Ausbeutung der eigenen Bevölkerung aufbaut), und sie loben die „Schwellenstaaten“ (also Länder wie Indonesien und Brasilien, die ihre Natur hemmunglos zerstören und ihren wirtschaftlichen Fortschritt auf Kosten der künftigen Generationen vermehren).
Das sollen unsere Vorbilder sein? Dem sollen wir nacheifern? So sollen wir auch werden – nur weil es so im Wirtschaftsteil der Zeitungen steht?
Nein, unsere Kanzlerin hat von Europa, vom wahren Europa, nichts begriffen, wenn sie sein Überleben mit einer Währung verknüpft.
Thomas von Aquin, Petrarca, Erasmus, Luther, Kopernikus, Goethe, Schopenhauer – das ist Europa.
Aber – um Himmels willen – doch nicht der Euro!