Es ist immer eine Freude, wenn man etwas Lateinisches dort findet, wo man es am wenigsten erwartet. So ist es mir jetzt mit einer kleinen Notiz in der F.A.Z. ergangen. Das Berliner Abgeordnetenhaus, hieß es da, habe einen Augenzeugenbericht über den Bau der Berliner Mauer („Vallum Berolinense“) veröffentlicht – und zwar in lateinischer Sprache!
Es ist ein wunderschönes kleines Büchlein von 52 Seiten, und es wird sogar – man glaubt es kaum! – kostenlos abgegeben (zu bestellen beim Abgeordnetenhaus Berlin).
Der schon lange verstorbene Autor ist Harry C. Schnur, ein gebürtiger Berliner, der 1933 gerade noch vor den Nazis hatte fliehen können. Am 13. August 1961 war er – wirklich aus purem Zufall! – mit seiner Frau in Berlin, und er beschloß, seinen Augenzeugenbericht in lateinischer Sprache zu verfassen. Zu seiner Frau sagte er:
Mitte timorem, carissima. Hoc ipso enim temporis momento historia fit, et bene accidit ut in loco simus.
Keine Angst, mein Liebling! In diesem Augenblick wird Geschichte gemacht, da trifft es sich gut, daß wir an diesem Ort sind.
Schnur, der schon ein Jurastudium abgeschlossen hatte, wandte sich im Alter von 45 Jahren der Klassischen Philologie zu. Auch dieses Studium schloß er mit der Promotion ab. Was ihn letztlich dazu bewog, seinen Bericht lateinisch zu schreiben, weiß man nicht genau, aber es war auf jeden Fall eine glückliche Fügung – und es ist auch ein Glück, daß Dr. Fritz Felgentreu diesen verschollenen Text ans Licht gebracht und aus Anlaß des 50. Jahrestags des Mauerbaus in einer zweisprachigen kommentierten Ausgabe herausgebracht hat.
Es muß sich also wirklich niemand fürchten, der das Lateinische noch nicht perfekt beherrscht! Auf der linken Seite liest man nämlich den lateinischen Text, auf der rechten die deutsche Übersetzung. Das ist alles so schön gemacht, daß man sich nur freuen kann über so ein Geschenk – auch wenn der historische Anlaß natürlich nicht erfreulich ist. Aber die Mauer ist ja nicht mehr da, und wie Schnur ihren Fall 1989 beschrieben hätte, kann man sich ausmalen.
Auf jeden Fall hätte er ihn wohl, wie 1961, in seiner geliebten lateinischen Sprache verfaßt. Aber als die Mauer endlich fiel, war er schon zehn Jahre tot.