Ich hatte vor einiger Zeit darüber geklagt, daß über die in lateinischer Sprache gehaltene Rede, die der im Juli verstorbene Otto von Habsburg im Europäischen Parlament gehalten hat, so wenig herauszufinden ist.
Jetzt habe ich, immerhin, in der Zeitschrift Vox Latina einen Nachruf entdeckt, der wenigstens einige noch unbekannte Details nennt.
Es war im Jahr 1979. In Straßburg tagte das Europäische Parlament, da ergriff der frisch ins Parlament gewählte italienische Abgeordnete Mario Capanna das Wort. Aber wer ist Mario Capanna?
Capanna, Jahrgang 1945, war einer der Anführer der Studentenbewegung in den 60er und 70er Jahren – also, wenn man so will, der „italienische Dutschke“. Später wurde er zur charismatischen Persönlichkeit in der Democrazia Proletaria, die bei den Wahlen zum Europaparlament immerhin einen Sitz errang.
Capanna also ging zum Rednerpult und hielt seine Rede – in lateinischer Sprache. Das Hohe Haus war sprachlos, Schweigen und Ratlosigkeit breiteten sich aus. Den meisten Damen und Herren Abgeordneten (und natürlich auch den Parlamentsstenographen) war diese Sprache völlig unbekannt, Capanna hätte genauso gut auf Kisuaheli oder auf Uigurisch reden können. Niemand weiß, warum Capanna lateinisch sprach, wahrscheinlich wollte er das Parlament nur provozieren.
Aber da hatte er seine Rechnung ohne Otto von Habsburg gemacht. Der stand nämlich auf und antwortete seinem Vorredner – ebenfalls lateinisch! Er sei, sagte er, in der Sache völlig anderer Meinung als Capanna, aber er habe sich sehr gefreut, daß Capanna die lateinische Sprache gebraucht habe – wörtlich (nach dem Artikel in der Vox Latina):
quod usus esset lingua vere Europaea et matre quodammodo omnium nostrum, qua diutius carere in hoc consilio vix liceret.
Otto von Habsburg gratulierte also dem italienischen Kommunisten dafür, daß er die „wahre europäische Sprache“ benutzt hatte – „die Mutter von uns allen“, die man doch eigentlich in einem europäischen Parlament kaum entbehren könne. Leider wüßten die Menschen in unserer Zeit – „propter egestatem cultus atque humanitatis“, also aus Mangel an Bildung – gar nicht mehr, wie nützlich das Lateinische sei. Und so beschloß er seine kurze Rede, wohl wissend, daß ein schneller Siegeszug des Lateinischen nicht möglich war, mit einem Zitat aus Vergils Aeneis:
maneat nostros ea cura nepotes.
„Möge diese sorgende Liebe auch unseren Enkeln verbleiben“ – so hat Rainer Lohmann diese Zeile übersetzt (hier nachzulesen).
Die gesamte Rede soll in der Zeitschrift Pro lingua Latina (2/1999) abgedruckt sein. Ich habe das Heft leider nicht einsehen können.
Den in lateinischer Sprache verfaßten Nachruf auf Otto von Habsburg – er stammt von dem emeritierten Münchener Altphilologen Wilfried Stroh – kann man in Heft 185 (2011) der Zeitschrift Vox Latina nachlesen. Das Heft kostet 6 Euro und kann direkt beim Verlag Societas Latina in Saarbrücken bestellt werden.
Wer sein altes Schullatein auffrischen möchte, den kann ich nur dazu ermuntern, einmal ein (kostenloses) Probeheft dieser Zeitschrift anzufordern. Man sieht dann nämlich, daß man über alles, über wirklich alles auch in lateinischer Sprache reden und schreiben kann. Man spielt dann eine Art Glasperlenspiel, und selbst moderne Dinge wie Waschmaschine (machina lavatoria) oder Selbstmordattentäter (tromocrates suicidarius) lassen sich problemlos ins Lateinische übertragen.
1979 tagte das Europäische Parlament nicht in Brüssel, sondern in Strasbourg. Ich hatte das Vergnügen, auf der Besuchertribüne zu sitzen und diese kuriose Rede zu hören.
Vielen Dank, Frau Sperber! Ich werde den Fehler gleich korrigieren. Erinnern Sie sich denn noch, wie die Abgeordneten auf die Rede reagiert haben?