Lieber Wladimir Wladimirowitsch,
ich muß doch wieder einmal, auch wenn ich wenig Lust dazu verspüre, ein Briefchen an Dich schreiben.
Viele von uns (auch ich!) haben Dich ja lange Zeit für einen vernünftigen und soliden Statsmann gehalten. Aber wie Du es geschafft hast, diesen guten Ruf in Windeseile zu verspielen, das ist erstaunlich. Was ist nur in Dich gefahren, Wladimir Wladimirowitsch?
Eine midlife crisis kann es ja nicht sein, deshalb vermute ich, daß Du, bevor Dein letztes Stündlein schlägt, ein allerletztes Mal ganz groß in den Lauf der Geschichte eingreifen wolltest. Make Russia great again! Vielleicht am Ende so groß, wie es unter Väterchen Stalin war? Und keine Frage – von Stalin und Berija hast Du viel gelernt, vor allem, wie Du mit dem lästigen Ungeziefer fertig wirst, das Dich so lange geplagt hat, der Nawalny-Zecke, der Politowskaja-Mücke oder der Nemzow-Laus. Von Stalin lernen heißt siegen lernen! Weg mit dem Unrat, hast Du Dir gedacht, und bei der Schädlingsbekämpfung, das muß man Dir bescheinigen, hast Du es wirklich weit gebracht.
Aber dann!
Stellst eine ganze Armee an die Grenze zur Ukraine und willst sie mir nichts, dir nichts erobern. Erlaube mir, daß ich ganz offen rede, Wladimir Wladimirowitsch: das war so ziemlich das Dümmste, was Du in Deinem ganzen Leben gemacht hast. Und Du hast schon viel Dummes und Böses angestellt! Wenn Du ein Land für Dich gewinnen willst, mußt Du freundlich zu den Menschen sein, die darin leben. Wenn Du wie ein Berserker über sie herfällst, wenn Du Deine Soldaten plündern, foltern und morden läßt, dann verlierst Du auch noch den letzten Anhänger. Was hast Du mit Deinem Überfall also ereicht? Genau das, was Du verhindern wolltest. Die Ukraine geeinter und stärker als je und entschlossen, um jeden Quadratmeter ihres Landes zu kämpfen. Die europäischen Demokratien und ihre Völker einig wie lange nicht mehr und bereit, die liberale Demokratie, die Du fürchtest wie der Teufel das Weihwasser, um jeden Preis zu verteidigen. Die NATO, die Du mit militärischen Drohungen zurückdrängen wolltest, ist durch den Beitritt Finnlands näher an Deinen Grenzen als je zuvor.
Alles in allem, Wladimir Wladimirowitsch, mußt Du zugeben: Du bist wirklich ein elender Stratege. Und wenn ich mir so ansehe, was Du da um Dich versammelt hast: das sind nicht etwa die klügsten Köpfe Deines Landes, es ist der Abschaum, es ist die faex populi Rußlands. Prigoschins Söldner, brutal und verkommen, die aus dem Bild von Hammer und Sichel nur noch den Hammer gelten lassen, mit dem sie Gegner vor laufender Kamera den Schädel zertrümmern; Kadyrow, der Schlächter aus Tschetschenien, der Mann fürs Grobe, den Du ins Herz geschlossen hast; und dann Deine Propagandisten im Abendprogramm: Krassowski, der alle ukrainischen Kinder ertränken will („Ertränken! Einfach ertränken!“), Wladimir Solowjow, der die deutschen Journalisten als „die Erben von Goebbels“ und als „entkommene Nazischweine“ beschimpft, und natürlich Kisseljow, der die USA „in Staub verwandeln“ möchte. Ganz zu schweigen von Medwedew, der einmal Dein Schoßhündchen war und jetzt nur noch mit Schaum vor dem Mund im Staatsfernsehen auftritt.
Das ist also die Elite, die Du um Dich scharst. Und da redest Du über die Verkommenheit des Westens? Du hast ein Reich des Lügens und der Bereicherung errichtet, und alles was gut und redlich war in Rußland, ist längst aus dem Land geflohen oder sitzt in Deinen Straflagern. Aber höre, Wladimir Wladimirowitsch! Du wirst Dich dereinst für alles, was Du Deinem eigenen Volk und den armen Ukrainern angetan hast, verantworten müssen – hoffentlich noch zu Deinen Lebzeiten, aber ganz bestimmt, wenn Du vor Deinem Schöpfer stehst. Und dann wird Dir die Osterkerze, die Du vor laufenden Kameras – scheinheilig! – in der Hand hältst, nichts nutzen.