Jetzt also Italien!
Irgendeine dahergelaufene Ratingagentur – diesmal ist es Standard & Poor’s – stuft das Land herab, und alles ist in heller Aufregung: es ist die Meldung Nummer eins bei den Agenturen, in allen Nachrichten, und die Regierungen und Parteien reagieren darauf mit den üblichen öffentlichen Gefühlsregungen: Bestürzung, Verständnis, Enttäuschung. Aber wie auch immer: sie nehmen diese Meldung wichtig – so wichtig, daß sie automatisch (wie man in der Formel 1 sagen würde) die pole position erhält.
So werden Medien und Regierungen – beide hilflos, beide nicht willens, den Dingen wirklich auf den Grund zu gehen – zu Erfüllungsgehilfen der gewissenlosen Finanzwelt. Je kläglicher, je ängstlicher beide auf die Zumutungen dieser Subkultur reagieren, umso verwegener wird sie werden. Es ist wie bei einem Serienmörder: je mehr man über ihn berichtet, je mehr er die Öffentlichkeit im Griff hat, desto stärker werden seine Allmachtsgefühle. Dieser Vergleich ist übrigens ganz und gar nicht unangemessen, im Gegenteil: ein Mörder tötet nur hin und wieder einen Menschen, diese Agenturen aber vernichten mit einer einzigen Pressemeldung – „S&P zweifelt am Sparwillen Italiens“ – ein ganzes Land (und sie kennen die Folgen ihrer Meldung sehr genau). Wer handelt da eigentlich ethisch verwerflicher: der Serienmörder oder die Ratingagentur? Je länger ich beides vergleiche und an moralischen Maßstäben messe, umso mehr neigt sich bei mir die Waage zugunsten des Mörders. Er tötet im kleinen Maßstab, und meist sind es Affekte, Triebe, seelische Verwundungen, die ihn dazu treiben. Der Kapitalanleger, der mit seinen Entscheidungen ganze Länder ins Unglück stürzt, wird nicht von Affekten getrieben, er handelt (wenn man das so sagen darf) völlig rational und ohne jede Gefühlsregung. Denkt der Mitarbeiter einer Ratingagentur, wenn er Griechenland zu einem Ramschland macht, an die hunderttausend griechischen Familien, die er damit in den Ruin treibt? Bewahre!
„Wir stufen doch nur ganz objektiv die Kreditwürdigkeit eines Landes ein“, würde er Ihnen antworten. Die Folgen einer solchen Meldung gehen ihn nichts an.
Hier ist offenbar, ohne daß wir es wahrgenommen haben, ein völlig ethikfreier Raum enstanden. Die Banker, die Ratingagenturen, die Wertpapierhändler – sie alle übernehmen keinerlei Verantwortung für die Folgen ihres Handelns, sie verstecken sich hinter einer vordergründigen Rationalität, die das Schicksal der betroffenen Menschen vollständig ausblendet. Es geht nur noch ums Geld, um den Gewinn – ein ekelhafter Tanz ums Goldene Kalb von geradezu biblischen Ausmaßen.
Natürlich: im Grunde ist es ein menschlich armseliges Milieu, und nicht für alles Geld der Welt möchte ich mit einem dieser Banker und Wertpapierjongleure tauschen. Aber es ist auch höchste Zeit, daß man ihnen ihre Grenzen zeigt. Und das geht nur, wenn man nicht mehr auf die Sündenböcke eindrischt, egal, ob sie Griechenland, Italien, Portugal oder sonstwie heißen: man muß die eigentlichen Täter zur Verantwortung ziehen.
Und man sollte vielleicht in einer stillen Stunde auch einmal darüber nachdenken, ob nicht dieser vollständige Mangel an Moral, dieser Mangel an einem sicheren Gespür für Gerechtigkeit, für Gut und Böse in großen Teilen der Gesellschaft mit dem Sieg der Autonomie des aufgeklärten Menschen zusammenhängt.
Was haben wir noch zu fürchten, wenn Gott tot ist? Dann können wir jede Schandtat, jedes Verbrechen begehen und uns dabei noch ins Fäustchen lachen.
Es ist ein hübscher Gedanke, daß es auch eine Moral jenseits aller Religionen gibt. Aber dieser Gedanke ist eben nur hübsch, nichts weiter.