Frauen zählen Frauen zählen Frauen – oder: Über die feministische Mathematik

Erbsenzählerei kennt man seit langem, aber Erbsenzähler sind nicht besonders beliebt. Die Frauenzählerei dagegen erlebt einen erstaunlichen Aufschwung. Frauen zählen überall, sie zählen Frauen (also sich selbst), sie zählen Männer, sie bilden Summen und Differenzen und Prozentzahlen bis in den letzten Kleingartenverein, nichts entgeht ihrem Auge. Gerechtigkeit stellen sie sich als eine Art Buchhaltung vor, ihr Ziel: ♀˃♂.

Die klassiche Musik, meint Amy Beth Kirsten, sei „in erdrückendem Maße männerdominiert“. Und Alex Ross schreibt:

Jede Einrichtung, die regelmäßig die Werke von Frauen präsentiert, wird ganz automatisch zu einem lebendigeren Ort. Möglicherweise hat das Desinteresse der jüngeren Generationen an klassischer Musik mit der muffigen, allzu exklusiv daherkommenden Atmosphäre des Repertoires zu tun.

Das ist sicher richtig, denn immer nur Haydn, Mozart, Beethoven und all die anderen alten Männer spielen, das nervt echt! Und in der New Yorker Met hat man in den letzten hundert Jahren nur eine einzige Oper einer Komponistin gespielt! Auch der Deutsche Bühnenverein zählt eifrig – und kommt zu einem erschütternden Ergebnis:

Und jedes Jahr wieder stehen Mozart, Verdi, Puccini und Wagner ganz oben bei den Opern.

Man faßt es nicht. Aber der Musikkritiker Uwe Friedrich hat eine Idee, wie man das ändern könnte:

Erst mal müssen Frauen das Gefühl vermittelt bekommen, dass sie willkommen sind.

Ja, so ist es: Männer komponieren einfach drauflos, Komponistinnen brauchen erst einmal eine auf sie zugeschnittene Willkommenskultur. Ir sult sprechen willekomen! Aber zurück zum Zählen. Da ist die Theaterwelt besonders ergiebig (hier nachzulesen):

Nur 30 Prozent der Inszenierungen an deutschen Theatern stammen von Frauen.
Nur 22 Prozent der Theater werden von Frauen geleitet.

Und woran liegt es, daß unsere Bühnenkunst „von der Perspektive des weißen, männlichen Künstlers dominiert“ wird? Natürlich an der „männlichen Kultur der Macht“!

Früher, in den alten Zeiten, da hat man doch tatsächlich, naiv wie man war, nur danach gefragt, ob es eine gute oder eine schlechte Oper, ein gutes Theaterstück oder ein fades, ein gelungenes Gedicht oder ein mißglücktes sei. Heute weiß man: die Kultur blüht nur auf, wenn Komponistinnen, Lyrikerinnen, Malerinnen und Schauspielerinnen in einem bestimmten mathematischen Verhältnis zu ihren männlichen Kollegen stehen. Alles nur Mathematik!

Aber selbst die ist, zumindest bei den amerikanischen people of color, in Verruf geraten. Dort hat es nämlich Brittany Marshall, eine junge farbige Studentin der Rutgers University, mit folgendem Satz zu landesweitem Ruhm gebracht:

The idea of 2+2 equaling 4 is cultural and because of western imperialism/colonization, we think of it as the only way of knowing.

Auf deutsch:

Die Idee von 2+2=4 hat kulturelle Gründe. Als Folge von westlichem Imperialismus/Kolonisierung halten wir sie für das einzig richtige.

Wer jetzt denkt, die Studentin sei daraufhin exmatrikuliert oder zumindest zu einem Gespräch mit dem Psychologischen Dienst ihrer Universität gebeten worden, hat sich getäuscht. Das Kultusministerium von Oregon hat, wie die F.A.Z. berichtet, alle Lehrer des Staates in einem Rundbrief aufgefordert, sich in einem Kursus namens „Ethomathematik“ weiterzubilden:

Der Bildungstrend gehe davon aus, daß der Fokus auf das korrekte Resultat im Mathematikunterricht ein Zeichen „weißer Vorherrschaft sei“. Ein Ziel der Fortbildung solle daher sein, für jede Aufgabe mindestens zwei Ergebnisse zu erarbeiten.

Also 2+2=3? Oder 2+2=5? Man kommt der Wahrheit ein Stück näher, wenn man die mathematischen Ergebnisse des sog. SAT-Tests betrachtet, der in den USA seit fast hundert Jahren an den Highschools durchgeführt wird. Von theoretisch möglichen 800 Punkten erreichten 2020

afroamerikanische Schüler 454 Punkte,
hispanischstämmige 478 Punkte,
weiße Schüler 547 Punkte und
asiatischstämmige Schüler 632 Punkte.

Da ja der liebe Gott, wie man weiß, Verstand und Schöpferkraft völlig gerecht und gleich an jedermann verteilt hat, kann das schlechte Abschneiden von Farbigen und Hispanos nur an „Imperialismus/Kolonisierung“ liegen. Deshalb fordern US-Pädagogen die Abschaffung der Algebra, und der Schulbezirk Seattle im Bundesstaat Washington hat vor zwei Jahren damit begonnen, den Unterricht zu „entkolonialisieren“ und die Mathematik durch Streetart, Genderstudien und Unterwasserrobotik zu ergänzen.

Genug des närrischen Treibens! Erwähnen wir am Ende noch Alexis de Toqueville, der von Mai 1831 bis Februar 1832 in den Vereinigten Staaten weilte, um dort im Auftrag der französischen Regierung das Rechtssystem der USA zu studieren. In seinem berühmten zweibändigen Werk, De la démocratie en Amérique (1835/1840), kam er zu dem Schluß, daß die USA der gerechteste Staat der Welt sei, aber er entdeckte auch ein gravierendes Manko: den Versuch, auch an Schulen und Universitäten das Prinzip von Mehrheitsentscheidungen einzuführen. Kunst und Wissenschaft aber, darauf beharrt er, seien in ihrem Wesen aristokratisch, nicht demokratisch. Anthony Kronman, dessen kluges Buch „The Assault on American Excellence“ (New York 2019) über die zunehmend totalitären Zustände an einigen amerikanischen Universitäten ich dringend zur Lektüre empfehle (es gibt leider noch keine deutsche Ausgabe), ist darauf ausführlich eingegangen.

Natürlich muß der Zugang zu Schulen und Universitäten gerecht sein. Aber (ich übersetze Kronmans Sätze in Ermangelung einert deutschen Ausgabe)

die Fähigkeit zu genießen, sich auszudrücken und zu urteilen ist bei einigen Menschen weiter entwickelt als bei anderen, und sie ist bei einigen wenigen besonders subtil und fein, besonders wenn es um intellektuell, ästhetisch und spirituell herausfordernde Anstrengungen geht. Das ist eine aristokratische Annahme. Sie ist in einer Demokratie wie der unseren immer in Gefahr, verspottet und abgelehnt zu werden. Aber dann verlieren wir etwas Wertvolles. Ohne die Idee von Größe wird das menschliche Leben unbedeutender und flacher. Es wird weniger erhaben und zugleich weniger tragisch. Diese Idee von Großartigkeit vor jeder demokratischen Beeinträchtigung zu bewahren, ist der erste Grund, warum unsere Colleges und Universitäten die aristokratische Liebe zu allem, was brilliant und großartig ist, fördern müssen. Der zweite liegt darin, daß diese Liebe einen Beitrag zur Stärke und Stabilität unserer Demokratie leistet.

Die Freiheit, sich seine eigene Meinung zu bilden, beinhaltet eine große Verantwortung. Viele erleichtern sich diese Last, indem sie die Meinungen anderer übernehmen, ohne sich selbst Gedanken zu machen. Das Ergebnis ist eine Art Gruppendenken, das teils aus Unwissenheit, teils aus Angst resultiert. Das macht es für Möchtegern-Tyrannen leichter, die demokratischen Massen zu manipulieren und sie schließlich ihrer Freiheit zu berauben. Tocquevilles größte Sorge für die Zukunft Amerikas war, daß die Konformität des Denkens den Weg zur Despotie erleichtern würde.

Große kulturelle Leistungen werden, auch wenn das Aktivisten und Fanatikern eines absurd überspitzten Gerechtigkeitsbegriffs nicht gefällt, auch in Zukunft immer nur den wenigen großen Begabungen gelingen. Die Vorstellung, daß Kultur allein schon dadurch entsteht, daß immer mehr Kindern – unabhängig von Begabung und Intelligenz – der Zugang zur höheren Bildung ermöglicht wird, führt in der Praxis zu einer Nivellierung der Bildung auf niedrigem Niveau. Auch die seltsame Vermehrung der Abiturienten in Deutschland war nur durch eine allgemeine Senkung des Niveaus möglich – ganz zu schweigen von der linken Phantasmagorie, man könne (nach Art des „Bitterfelder Wegs“ in der DDR) aus Werktätigen nach Belieben große Schriftsteller heranzüchten.

Dieser Beitrag wurde unter Politik, Sprache und Literatur veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert