Heute soll es einmal ein Rätsel sein, aber keine Angst, das Rätsel wird am Ende des Beitrags gelöst. Es geht um ein Werk, das so beginnt:
Rings um das mannigfaltig gegliederte Binnenmeer, das tief einschneidend in die Erdfeste den größten Busen des Ozeans bildet und, bald durch Inseln oder vorspringende Landfesten verengt, bald wieder sich in beträchtlicher Breite ausdehnend die drei Teile der alten Welt scheidet und verbindet, siedelten in alten Zeiten Völkerstämme sich an, welche, ethnographisch und sprachgeschichtlich betrachtet, verschiedenen Rassen angehörig, historisch ein Ganzes ausmachen. Dies historische Ganze ist es, was man nicht passend die Geschichte der alten Welt zu nennen pflegt, die Kulturgeschichte der Anwohner des Mittelmeers, die in ihren vier großen Entwickelungsstadien an uns vorüberführt die Geschichte des koptischen oder ägyptischen Stammes an dem südlichen Gestade, die der aramäischen oder syrischen Nation, die die Ostküste einnimmt und tief in das innere Asien hinein bis an den Euphrat und Tigris sich ausbreitet, und die Geschichte des Zwillingsvolkes der Hellenen und der Italiker, welche die europäischen Uferlandschaften des Mittelmeers zu ihrem Erbteil empfingen.
Na, wer weiß es? Die beiden Sätze (es sind wirklich nur zwei!) sind natürlich für den heutigen Leser eine Zumutung, kaum einer unserer Abiturienten, deren Atem nur noch für kurze Sätze reicht, wird auch nur einen von ihnen beim ersten Lesen überblicken, und ein zweites Lesen wird er sich nicht antun.
Hier ist noch eine zweite Kostprobe, die es vielleicht ein bißchen leichter macht, auf Autor und Werk zu kommen; es stammt aus dem Kapitel „Glaube und Sitte“:
In strenger Bedingtheit verfloß dem Römer das Leben und je vornehmer er war, desto weniger war er ein freier Mann. Die allmächtige Sitte bannte ihn in einen engen Kreis des Denkens und Handelns und streng und ernst oder, um die bezeichnenden lateinischen Ausdrücke zu brauchen, traurig und schwer gelebt zu haben war sein Ruhm. Keiner hatte mehr und keiner weniger zu tun als sein Haus in guter Zucht zu halten und in Gemeindeangelegenheiten mit Tat und Rat seinen Mann zu stehen. Indem aber der einzelne nichts sein wollte noch sein konnte als ein Glied der Gemeinde, ward der Ruhm und die Macht der Gemeinde auch von jedem einzelnen Bürger als persönlicher Besitz empfunden und ging zugleich mit dem Namen und dem Hof auf die Nachfahren über; und wie also ein Geschlecht nach dem andern in die Gruft gelegt ward und jedes folgende zu dem alten Ehrenbestande neuen Erwerb häufte, schwoll das Gesamtgefühl der edlen römischen Familien zu jenem gewaltigen Bürgerstolz an, dessen gleichen die Erde wohl nicht wieder gesehen hat und dessen so fremd- wie großartige Spuren, wo wir ihnen begegnen, uns gleichsam einer anderen Welt anzugehören scheinen.
Wer sich einmal eingehender mit dem alten Rom beschäftigt hat, weiß jetzt natürlich, um welches Werk es sich handelt: die „Römische Geschichte“ von Theodor Mommsen. Der große Historiker und Altertumswissenschaftler des 19. Jahrhunderts hat dafür 1902, kurz vor seinem Tod, den Nobelpreis für Literatur erhalten – eine seltene, aber hochverdiente Auszeichnung für einen Historiker. Man muß das gewaltige Werk übrigens nicht von vorn bis hinten durchlesen; es ist schon ein geistiges Vergnügen, sich hin und wieder ein Kapitel vorzunehmen. Und ein teures Vergnügen ist es auch nicht, die kompletten acht Bände bekommt man antiquarisch schon für gut 30 Euro.