Jakob Nolte hat im Suhrkamp-Verlag einen neuen Roman veröffentlicht. Er heißt „Kurzes Buch über Tobias“ – aber um ihn soll es hier nicht gehen. Es geht eher darum, wie der Verlag seinen neuen Autor bewirbt. In einer tiefroten Anzeige in der Literaturbeilage der F.A.Z. stehen neben dem Cover des Buches nur zwei Sätze. Der eine:
Jede Biographie ist ein Evangelium.
Ein in seiner Allgemeingültigkeit eher zweifelhafter Satz. Meine Biographie jedenfalls ist kein Evangelium. Ich kenne auch niemanden in meinem Umfeld, dessen Biographie man als frohe Botschaft bezeichnen könnte. Bezieht sich der Satz also auf den Roman? Lesen wir dazu, was Suhrkamp über das Buch seines neuen Autors schreibt (hier nachzulesen):
Kurzes Buch über Tobias beschreibt in achtundvierzig Kapiteln das Leben des Schriftstellers, Pfarrers und Televangelisten Tobias Becker. Er wuchs in Niedersachsen auf und lebt in Berlin, spielt gern Tischtennis und will das Gute. Auf einer Reise nach Belgrad verliebt er sich in einen Mann namens Tobias und bekehrt sich zu Gott. Er wird Zeuge, wie Menschen zu Hasen werden, sich Liebe in Hass verwandelt und ein Flugzeug in den Alpen verbrennt. Wie viele Männer wähnt er einen Messias in sich. In Tobias Beckers Welt ist alles unausweichlich miteinander verwoben: Familie, Glauben, Subjekt und Gewalt. Es ist eine Welt voller Alpträume und Wunder.
Der Roman hätte, wie man sieht, auch Eine kurze Geschichte von fast allem heißen können – aber dieser Titel ist ja schon vergeben.
Wie soll man nun, von der Handlung abgesehen, den Roman in seiner Bedeutung für die deutsche Literatur einschätzen? Dazu lesen wir bei Suhrkamp folgendes:
Jakob Noltes neuer Roman ist eine moderne Heiligenerzählung, ein mystisches Rätsel. Er handelt von der Einsamkeit in der Heimat und der Verlorenheit in den Städten, von Allmacht und großer Unsicherheit, Spiritualität und dem Internet, der Sehnsucht nach Zugehörigkeit und dem Streben nach Sinn. Er wirft alle Vorstellungen von biografischem oder autofiktionalem Schreiben über den Haufen und lotet auf einzigartige Weise den Reichtum der Literatur aus: Erzählen voller Witz und Wissen, voller Romantik, Traurigkeit und funkelndem Humor.
Es ist, mir jedenfalls, ein mystisches Rätsel, wie der Mitarbeiter eines (immer noch) renommierten Verlags solche Sätze aufs Papier bringen kann. Oder hat man bei Suhrkamp jetzt einen Hauslyriker angestellt? Stellenbeschreibung: muß Fähigkeiten im hymnischen Stil besitzen?
Aber in der roten Verlagsanzeige steht noch ein zweiter Satz:
Mit Kurzes Buch über Tobias schreibt Jakob Nolte die Literatur auf einen neuen Nullpunkt zu.
Es ist ein Zitat von Lisa Kreißler vom NDR, das der Verlag offenbar für werbewirksam hält. Mir sind freilich Bücher lieber, in denen der Autor zu einem neuen Höhepunkt der Literatur, und nicht zu deren Nullpunkt, strebt. Aber ich bin halt nur ein alt(modisch)er weißer Mann. Ich wähne ja nicht einmal – „wie viele Männer“ – einen Messias in mir!