Es ist ein offenes Geheimnis, daß bei uns das Gefühl für die Feinheiten der deutschen Sprache immer mehr abnimmt.
Ein eklatantes Beispiel dafür ist das Adjektiv „ganz“, das manchmal in einem sehr speziellen Sinn verwendet wird. Man sagt etwa, ein Mann habe „ganze zwei Jahre“ im Gefängnis gesessen, obwohl er ein schweres Verbrechen begangen hat. Man könnte dafür auch sagen: „nur zwei Jahre“. Eigentlich, das will man damit ausdrücken, hätte er viel länger sitzen müssen. Dieses „ganze“ sagt man also nur, wenn man darüber erstaunt ist, daß irgendeine Zahl oder Menge kleiner ist als erwartet.
Einer redet etwa „ganze zwei Minuten“ – das bedeutet: man hätte erwartet, daß er viel länger redet. Ein Kleid kostet „ganze 40 Euro“ – also ein Schnäppchen: eigentlich hätte man es für teurer gehalten.
Das ist doch eigentlich leicht zu verstehen, nicht wahr? Tatsächlich haben alle Generationen vor der heutigen das Wort auch genauso gebraucht.
Heute – hören Sie einmal aufmerksam Radio oder Fernsehen! – wird das Wort oft gerade umgekehrt, also völlig falsch gebraucht. Egal, ob es ein Privatsender oder unser Hessischer Rundfunk ist, ständig hört und liest man das Wort, wenn jemand ausdrücken will, daß eine Anzahl größer als erwartet ist.
Da heißt es etwa, daß ein Lottogewinner „ganze sechs Millionen Euro“ gewonnen habe. Oder: ein Bürgermeister war „ganze 16 Jahre im Amt“. Wer einmal wachen Sinnes die Medien verfolgt, wird merken, daß diese Wendung inzwischen viel öfter falsch als richtig gebraucht wird.
Ich habe mich schon oft gefragt, woran es liegt, daß es heute mit dem Sprachgefühl so dramatisch bergab geht. Es kann eigentlich nur daran liegen, daß heute weniger, aber vor allem, daß viel einseitiger gelesen wird als früher. Man liest vor allem Krimis, Thriller, Science Fiction, Fantasy – und gewöhnt sich damit an einen ziemlich einheitlichen, eher einfachen Sprachstil: kurze Sätze, Alltagssprache, wenig stilistische Komplexität, oft handelt es sich auch um wirklich schlechte, in aller Eile hingeschluderte Übersetzungen aus dem Amerikanischen. Selbst in der Oberstufe der Gymnasien greift die Generation Copy & Paste gern und oft auf die Zusammenfassungen im Internet zurück, um sich das Selberlesen zu ersparen.
So kommt es, daß heute schon Texte aus der Mitte des 20. Jahrhunderts vielen Menschen Schwierigkeiten bereiten, von Literatur aus der Goethezeit oder dem Biedermeier ganz zu schweigen. Niemand wird mehr zum Lesen älterer Texte genötigt, das Sprachgefühl verkümmert oder bildet sich gar nicht erst.
Denn wenn man ein Gefühl für die Sprache entwickeln will, dann gibt es nur eines: lesen, lesen, lesen – und zwar alles: von den Tischreden Luthers über Schillers Balladen bis zu den Romanen von Fontane, Mann und Grass.
Einen anderen Weg gibt es nicht.