„Harper’s Letter“ – und ein Redakteur der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung

Mehr als 150 Intellektuelle der Vereinigten Staaten und Englands – die meisten von ihnen Professoren und Schriftsteller – haben einen aufsehenerregenden Brief veröffentlicht. Er trägt den Titel „A Letter on Justice and Open Debate“. Es war Zeit für einen solchen Brief, höchste Zeit. Sie können ihn im Original online in Harper’s Magazine nachlesen, in der gedruckten Ausgabe wird er im Oktober erscheinen. Ein paar Absätze habe ich ins Deutsche übersetzt:

Der Geist der Zensur breitet sich in unserer Kultur immer mehr aus: Intoleranz gegenüber anderen Meinungen, der Trend zu Scherbengericht und öffentlicher Herabsetzung, die Tendenz, komplexe politische Fragen im blendenden Licht moralischer Gewißheit verschwinden zu lassen. Wir dagegen bestehen auf dem Wert einer kraftvollen, auch einer scharfen Entgegnung von allen Seiten. Aber überall wird jetzt als Reaktion auf vermeintliche Übergriffe in Sprache und Gedanken der Ruf nach schneller und strenger Bestrafung laut. Was noch beunruhigender ist: daß die Leitungen von Institutionen, in einer Art panischer Schadensbegrenzung, anstelle von besonnenen Reformen übereilte und unverhältnismäßige Strafen verhängen. Redakteure werden wegen kontroverser Beiträge entlassen, Bücher wegen angeblich fehlender Authentizität zurückgezogen. Journalisten verbietet man, über bestimmte Themen überhaupt zu schreiben, und Lehrer werden verfolgt, wenn sie in ihrer Klasse bestimmte literarische Werke zitieren … Wir zahlen den Preis dafür in Gestalt einer immer größeren Risikovermeidung bei Schriftstellern, Künstlern und Journalisten, die um ihre Existenzgrundlage fürchten müssen, wenn sie sich nicht an den Konsens halten oder nicht genügend Begeisterung für ihn aufbringen.

Am Ende schreiben die Autoren:

Diese erstickende Atmosphäre wird am Ende beschädigen, was für unsere Gesellschaft geradezu lebenswichtig ist. Die Beschränkung des Diskurses, ob sie nun von einer repressiven Regierung oder einer intoleranten Gesellschaft ausgeht, wird ausnahmslos jenen schaden, die keine Macht haben, und sie wird ihre Möglichkeiten zu demokratischer Teilhabe schmälern. Schlimme Ideen bekämpft man durch Aufdecken, Argumentieren und Überzeugen, nicht indem man sie zum Schweigen bringt oder einfach wegwünscht. Wir verweigern uns der Entscheidung zwischen Gerechtigkeit und Freiheit, denn beide können nicht ohne einander existieren. Als Schriftsteller brauchen wir eine Kultur, die uns Raum gibt für Experimente, Risiken und auch für Fehler. Wir müssen uns die Möglichkeit bewahren, im guten Glauben anderer Meinung zu sein, ohne harte berufliche Konsequenzen zu fürchten. Wenn wir selbst nicht verteidigen, was die Voraussetzung für unsere Arbeit ist, dann können wir nicht erwarten, daß die Öffentlichkeit oder der Staat sie für uns verteidigt.

Unterschrieben haben diesen überfälligen Aufschrei auch Noam Chomsky, der Nestor der amerikanischen Linken, und die Harry-Potter-Erfinderin Joanne K. Rowling. Wer sich eingehend mit der Situation an den Universitäten und Zeitungen der USA beschäftigt hat, wird den Brief eher als zu gemäßigt empfinden.

Und was sagt dazu ein Redakteur der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung? Hören wir, was Peter Körte, stellvertretender Ressortleiter im Feuilleton, von den „liberalen Intellektuellen“, die den Brief unterzeichnet haben, hält (hier nachzulesen):

Obwohl die wenigsten von ihnen bisher befürchten mussten, Opfer einer „Cancel Culture“ zu werden, also wegen unliebsamer Äußerungen aus dem öffentlichen Diskurs verbannt zu werden, konstruieren sie das Phantom einer Bedrohung: Neue „moralische Haltungen und politisches Engagement“ schwächten offene Diskussionen und Toleranz. Wer diese „Kräfte des Illiberalismus“ verkörpert, wer wofür verantwortlich ist und woher die große Macht der unbekannten Verantwortlichen rührt, Redeverbote zu verhängen, bleibt unscharf bis unkenntlich.

Das ist eine Zusammenfassung, die schon an fake news grenzt, zumindest zeigt sie, um es vorsichtig auszudrücken, die Unvertrautheit des Schreibers mit den amerikanischen Zuständen. In Filmkritiken mag er sich auskennen, aber hier ist ihm auf der Liste der Unterzeichner nicht einmal der Name Nicholas A. Christakis (Yale) aufgefallen, der 2015 eines der ersten Opfer war, das für seine Meinung bestraft wurde. Der Fall hatte damals über Yale hinaus Aufsehen erregt, denn es ging eigentlich gar nicht um Christakis selbst, sondern um seine Frau. Sie hatte, als in Yale Forderungen auftauchten, nur politisch korrekte Halloween-Kostüme zuzulassen, in einer E-Mail geschrieben, man solle es doch den Studenten selbst überlassen, wie sich verkleiden. Da brach die Hölle los, auch für Christakis, der seiner Frau beigepflichtet hatte.

Woher Körte seine Gewißheit nimmt, daß nur „die wenigsten“ Unterzeicher bisher befürchten mußten, selbst Opfer zu werden, weiß ich nicht. Gerade am Beispiel von Rowling kann man beobachten, wie Menschen selbst wegen einer kleinen, harmlosen Bemerkung mundtot gemacht werden sollen (sie hatte sich über die Bezeichnung „people who menstruate“ lustig gemacht).

PS: Körtes verächtliche Bemerkung fügt sich perfekt in seine Besprechung jenes Buches ein, das die beiden „New York Times“-Journalistinnen über den Weinstein-Skandal veröffentlicht haben. Da wischt Körte nach dem Motto „Wo gehobelt wird, fallen Späne“ alle negativen Folgen der MeToo-Bewegung brüsk zur Seite: die Kultur der Denunziation etwa, die dazu geführt hat, daß man den Gang durch die Gerichte gar nicht mehr antreten muß, weil das Opfer Ankläger, Zeuge und Richter in einer Person ist. So kann man mit leichter Hand die bürgerliche und berufliche Existenz von Menschen vernichten, ohne daß je ein Richter darüber Recht gesprochen hat. Das alles sind für Körte Kollateralschäden, die nicht zählen:

Die Breite des Protestes ist es auch, die Streuwirkungen erzeugt hat. Sie hat dafür gesorgt, dass es nicht immer die „Richtigen“ trifft, sondern auch die „Falschen“.

Aber:

Was ist diese Streuung, was sind dogmatische Verzerrungen, die sich bisweilen selbst ad absurdum führen, gegen die im Fall von #Metoo so offenkundige steinalte, zählebige Selbstgewissheit, man werde schon irgendwie davonkommen mit Diskriminierung, Benachteiligung und sexuellen Übergriffen, weil es ja schon immer so funktioniert habe?

Da merkt man denn doch, daß Körte viele Jahre für die Frankfurter Rundschau geschrieben hat.

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