Vor ein paar Tagen wurde in allen Feuilletons Hölderlins 250. Geburtstag gefeiert. Und es ist seltsam: fast alle Kritiker beginnen ihre Artikel, bevor sie ihr Lob verteilen, mit der Warnung, daß Hölderlins Lyrik doch ganz unzeitgemäß sei, die Sprache zu dunkel und zu hymnisch, das Pathos heutzutage kaum erträglich.
Stimmt das wirklich?
Im Grunde kritisieren sie damit ja nicht nur Hölderlin , sondern jede Lyrik, die über banales und seichtes Gereime hinausgeht. Lyrik ist zweifellos die schwierigste literarische Gattung. Wenn man sie selbst bei flüchtigem Lesen versteht, dann handelt es sich – mit Verlaub – um schlechte Lyrik. Ein lyrisches Gedicht kann man nicht „lesen“, so wie man die Sätze eines Romans herunterliest. Es ist ein sprachliches Geflecht aus Wörtern, Bildern und „Augenblicken“, das eben nicht, wie die Prosa, von der Linearität, von einem zeitlichen Nacheinander lebt („erst geschah dieses, danach jenes, dann ein drittes“), es ist vielmehr ein Geflecht, ein Netzwerk, in dem alles gleichzeitig ist und jedes Wort, jede Zeile sich auf alle anderen bezieht. Lyrik bedarf deshalb eines konzentrierten Lesers, der geistige Anstrengung und die Mühe des Nachdenkens und Rätselns nicht scheut – das mag einer der Gründe sein, weshalb sie in einer Zeit der sprachlichen Regression und Infantilisierung nur noch wenige Liebhaber hat.
In diesen Tagen, in denen wir alle das Rettende in der Gefahr gut gebrauchen können, mag ein kleiner Auszug aus Hölderlins Gedicht „Patmos“ Trost spenden:
Nah ist
Und schwer zu fassen der Gott.
Wo aber Gefahr ist, wächst
Das Rettende auch.
Im Finstern wohnen
Die Adler und furchtlos gehn
Die Söhne der Alpen über den Abgrund weg
Auf leichtgebaueten Brücken.
Drum, da gehäuft sind rings
Die Gipfel der Zeit, und die Liebsten
Nah wohnen, ermattend auf
Getrenntesten Bergen,
So gib unschuldig Wasser,
O Fittige gib uns, treuesten Sinns
Hinüberzugehn und wiederzukehren.