Ernst Jüngers Roman Auf den Marmorklippen, 1939 erschienen, gilt als „umstritten“, weil der Autor umstritten ist. Er ist eben in die moralische Deutung von Mensch und Literatur, in den grobschlächtigen, selten mit dem Florett ausgefochtenen Kampf zwischen Links und Rechts, zwischen Gut und Böse gezogen worden, und da ist er, zumindest für die Gattung der Ideologen, deren Zahl immer größer wird, bis heute entweder Freund oder Freund.
Als er 1982 für den Goethepreis der Stadt Frankfurt nominiert wurde, gaben die Grünen folgendes zu Protokoll (hier nachzulesen):
Uns ist es relativ gleichgültig, ob Ernst Jünger ein guter oder schlechter Schriftsteller ist. Er war unbestritten ein ideologischer Wegbereiter des Faschismus und ein Träger des Nationalsozialismus von Kopf bis Fuß. Ein Kriegsverherrlicher und erklärter Feind der Demokratie. Er war und ist ein durch und durch unmoralischer Mensch.
Wer macht sich da angesichts einer solchen damnatio noch die Arbeit, den Autor zu lesen, wenn es gleichgültig ist, ob er „ein guter oder schlechter Schriftsteller“ ist? Das Urteil ist schon gefallen. Er selbst hat in seiner Rede darauf geantwortet:
Auch die Inquisition ist säkularisiert. Wie einst der konfessionellen, spürt sie heute der politischen Abweichung nach. Dem Zeitalter des Anstreichers ist das Zeitalter der Anbräuner gefolgt.
Daß Jünger ein großer, ein bedeutender und lesenswerter Schriftsteller ist, dazu muß man nur die ersten Sätze seiner Marmorklippen lesen.
Ihr alle kennt die wilde Schwermut, die uns bei der Erinnerung an Zeiten des Glückes ergreift. Wie unwiderruflich sind sie doch dahin, und unbarmherziger sind wir von ihnen getrennt als durch alle Entfernungen. Auch treten im Nachglanz die Bilder lockender hervor; wir denken an sie wie an den Körper einer toten Geliebten zurück, der tief in der Erde ruht, und der uns nun gleich einer Wüsten-Spiegelung in einer höheren und geistigeren Pracht erschauern läßt. Und immer wieder tasten wir in unseren durstigen Träumen dem Vergangenen in jeder Einzelheit, in jeder Falte nach. Dann will es uns scheinen, als hätten wir das Maß des Lebens und der Liebe nicht bis zum Rande gefüllt gehabt, doch keine Reue bringt das Versäumte zurück. Oh, möchte dieses Gefühl uns doch für jeden Augenblick des Glückes eine Lehre sein! Und süßer noch wird die Erinnerung an unsere Mond- und Sonnenjahre, wenn jäher Schrecken sie beendete. Dann erst begreifen wir, wie sehr es schon ein Glücksfall für uns Menschen ist, wenn wir in unseren kleinen Gemeinschaften dahinleben, unter friedlichem Dach, bei guten Gesprächen und mit liebevollem Gruß und zur Nacht. Ach, stets zu spät erkennen wir, daß damit schon das Füllhorn reich für uns geöffnet war.
Der Verleihung des Goethepreises der Stadt Frankfurt an Ernst Jünger sind übrigens nicht nur die Grünen ferngeblieben, sondern auch der damalige Bundespräsident Karl Carstens (CDU) und der hessische Ministerpräsident Holger Börner (SPD). Sie alle dürften – von ein paar „anstößigen“ Stellen abgesehen, die damals in grünen und linken Postillen verbreitet wurden – nie eines der Jüngerschen Werke gelesen haben.
PS: Wie soll man sich eigentlich einen „Träger des Nationalsozialismus von Kopf bis Fuß“ vorstellen?
Sehr geehrter Lupulus,
danke auch für diesen wichtigen Beitrag! Bis vor wenigen Jahren wusste ich, der ich im Jahre 1992 geboren wurde, nicht, wer Ernst Jünger war, und ohne intensives Stöbern in der Seminarbibliothek hätte es möglicherweise viele Jahre gedauert, bis ich einen seiner Texte gelesen hätte, denn im Germanistikstudium erfährt man heutzutage in der Regel nichts von seiner Existenz. Auch in Fernsehen, Rundfunk und Zeitungen findet er meines Wissens kaum noch Beachtung. Das ist schade, denn er scheint ein in vielerlei Hinsicht außergewöhnlicher und lesenswerter Schriftsteller zu sein. Vor einem halben Jahr habe ich meine Abschlussarbeit zu seiner Erzählung „Besuch auf Godenholm“ geschrieben. Viele, denen ich davon erzählte, reagierten mit Skepsis und sichtlichem Unbehagen. Auch war Ernst Jünger den meisten von ihnen nicht in erster Linie als Schriftsteller bekannt, sondern – zugespitzt formuliert – als politischer Extremist. Zum Glück haben immerhin meine Betreuerinnen zwischen Person und Werk zu unterscheiden gewusst. Das gibt Hoffnung, denn wenn selbst an Universitäten Literatur nurmehr nach den politischen Ansichten ihrer Autoren bewertet würde, wäre dies ein verheerendes Signal für die Zukunft der Schreibekunst in diesem Land.
Mit freundlichen Grüßen
Ihr Quercus