Die neue Lust an der Rohheit

Jeder kennt die Merkwürdigkeit, daß ein verurteilter Mörder auf manche Frauen eine sonderbare Anziehungskraft ausübt. Sie schicken ihm Liebesbriefe ins Gefängnis und können nicht von ihm lassen. Wie kommt das? Ist das nicht wider alle Vernunft?

Ja, es ist wider alle Vernunft. Aber die Vernunft ist die jüngste und zugleich die schwächste Triebkraft im Menschen. Vieles, was aus der Tiefe der Seele kommt, ist viel vitaler, kraftvoller – und pfeift auf die Vernunft.

Insbesondere nach längeren Phasen des friedlich genossenen Wohlstands meldet sich das wilde Tier, das unter der dünnen Haut der Zivilisation lauert und auf seine Stunde wartet.

Der Homo sapiens, der seinem Artnamen sapiens („klug“, „weise“) oft wenig Ehre macht, scheint längere Friedenszeiten nicht zu ertragen. Ein paar Jahrzehnte in Frieden und Wohlstand hält er aus, aber dann überkommt ihn eine wachsende Unruhe.

Immer nur Frieden, das reicht ihm nicht mehr. Langeweile peinigt ihn. A bisserl Krieg wär nicht schlecht, hat man früher gesagt – und ist in den Weltkrieg gezogen. Wenn es den Menschen zu lange zu gut geht, werden sie krank: eine schwere Form epidemischer Langeweile ergreift sie und verlangt nach Taten – und oft auch nach roher Gewalt.

Ich zitiere ja immer einmal wieder aus den Kommentaren der „User“ im Internet. Wer wollte bestreiten, daß die sprachliche Verrohung ein bis dahin unvorstellbares Ausmaß angenommen hat? Und die sich da zu Wort melden und ihre Rohheit, ihren Haß, ihre Dummheit hinausspeien, das sind nicht etwa Menschen, denen es wirklich schlecht geht, es sind auch nicht die „besorgten Bürger“, die es nur in der verlogenen Mythologie der AfD gibt. Nein, es sind kranke, gelangweilte Menschen, infiziert von der Sehnsucht nach Rohheit, nach dem Dunkel, das unter der dünnen Schicht von Humanität und Mitmenschlichkeit lauert. Was da nach außen drängt, ist, um es mit einem alten, freilich von der modernen Theologie nicht mehr gern gehörten Wort zu bezeichnen: das Böse.

Die seichte Theologie unserer Zeit will davon nichts mehr wissen, sie berauscht sich (besuchen Sie einmal einen evangelischen Gottesdienst!) immerfort am „guten Gott“, der ihr gar nicht gütig genug sein kann. Das Böse ist genauso aus ihr verschwunden wie die Hölle – und die Todsünden, die man, um nur ja keinen zu erschrecken, zu Hauptsünden herabgestuft hat.

Aber aus der Wirklichkeit ist das Böse ganz und gar nicht verschwunden, und die Wahrscheinlichkeit, daß es einmal aus ihr verschwinden wird, ist nicht gerade groß.

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