Der Dalai Lama hat während seines Deutschlandbesuchs in der vergangenen Woche der F.A.Z. ein interessantes Interview gegeben (hier nachzulesen) – interessant vor allem wegen der undiplomatischen Offenheit, mit der er nun, da er sein politisches Führungsamt abgegeben hat, über die chinesische Politik spricht.
Mit einer wahrhaften Engelsgeduld hatte der Dalai Lama über Jahrzehnte hinweg für einen friedlichen Ausweg aus der Tibetkrise plädiert und dafür den Haß und die Schmähungen der Han-Chinesen („separatistische Dalai Lama-Clique“ usw.) fast klaglos ertragen. Dieser friedliche Weg, das sollte man sich eingestehen, ist gescheitert. Der Dalai Lama besteht zwar immer noch darauf, aber sein Urteil über die chinesische Führung ist nun, da er freier reden kann, düster geworden.
Chinas Macht, sagt er, „basiert nicht auf Wahrheit oder Ehrlichkeit“. Es mangele China an Selbstvertrauen.
Tief im Inneren sitzen Furcht und Mißtrauen.
Und dann kommt ein Satz, der alles wie in einem Brennglas zusammenfaßt. In den Demokratien herrschten Rechtsstaatlichkeit und Gewaltenteilung als Kontrollmechanismen.
In China aber gibt es diese nicht, und deshalb herrscht dort ein sehr dreckiger Kapitalismus.
Dreckiger Kapitalismus – besser könnte man die völlig hemmungslose Ausbeutung der eigenen Bevölkerung nicht beschreiben. In diesem „kommunistischen“ Land herrscht ein ungebändigter Manchester-Kapitalismus, wie er heute auf der Welt seinesgleichen sucht. Die Ausbeutung ist staatlich (durch die Polizei und durch eine korrupte Bürokratie) abgesichert, es gibt weder eine unabhängige Justiz noch eine unabhgängige Presse. Jeder Widerstand wird im Keim erstickt – die drakonischen Strafen gegen Dissidenten in den letzten Monaten und Jahren zeigen es. Der Dalai Lama hat völlig recht: dieses Regime, das sich nach außen gern markig und oft genug fast kriegerisch gibt, hat kein Selbstvertrauen, es wird geschüttelt von der Angst, daß seine Zeit bald vorbei sein könnte.
Die vielen Stimmen, die als Begründung für das chinesische Handeln immer wieder auf angeblich traditionelle Begriffe wie Harmonie oder Einheit verweisen, unterliegen meines Erachtens einem Irrtum. Solche Begriffe sind bloß eine Maskerade, sie dienen der Rechtfertigung nach außen. Das Primäre aber ist und bleibt das unbedingte Streben der Partei nach Machterhaltung – und zwar um fast jeden Preis. Auch die kontrollierte Einführung marktwirtschaftlicher Elemente hatte letztlich nur diesen einen Zweck.
Natürlich wird es der Partei nicht gelingen, ihr engmaschiges System der Einschüchterung durch Verschleppung, Folter und Gehirnwäsche noch lange aufrechtzuerhalten. Es ist jetzt schon ein Anachronismus. Aber der Übergang zu einer Demokratie mit einer freien Presse und einer unabhängigen Justiz wird in China, anders als etwa in der DDR, nicht ohne Opfer ablaufen. Zu viele alte starrsinnige Männer hängen hier an der Macht, zu viele Privilegien und Pfründe stehen auf dem Spiel.
Aber der ganze Apparat wird eines Tages zusammenbrechen, und dieser Tag wird viel früher kommen, als es sich diese alten Männer vorstellen können.