Die „Köttbullar-Lüge“

Vor ein paar Jahren ist die Nachricht, die deutsche Sprache sei in Anatolien entstanden, wie eine Tatarenmeldung durch alle deutschen Blätter gegangen („Die deutsche Sprache ist gebürtige Türkin“, hieß es damals im Stern). Es waren fake news im schlechtesten Sinne des Wortes: praktisch alles an der Meldung war falsch, vor allem, daß es überhaupt um die deutsche Sprache ging. Die wissenschaftlichen Mutmaßungen, die der Nachricht zugrundelagen, betrafen allein die Herkunft der indogermanischen Sprache, also der Vorvorgängerin des Deutschen. Aber eine seriöse Darstellung solcher Petitessen hat natürlich keinen Nachrichtenwert, also hat man auch in den Blättern, die im Artikel selbst die Sachlage einigermaßen korrekt geschildert haben, zu den bizarrsten Überschriften gegriffen.

Ein auch nur halbwegs gebildeter Mensch aus dem analogen Zeitalter unserer Kultur (ich danke Gott, daß ich in ihr noch den größten Teil meines Lebens zugebracht habe!) hätte für eine solche Meldung nur homerisches Gelächter übriggehabt. Aber der kluge, analog gebildete Mensch, der einzige, den man wirklich Homo sapiens nennen darf, steht vor dem Aussterben, und keine Rote Liste bewahrt ihn davor.

Und was hat das mit den Köttbullar aus Schweden zu tun? Weil auch das wieder so eine Meldung ist, die wie ein Tsunami die User im Netz ergreift. Hier ein paar Überschriften aus dem Theater des Absurden:

Schweden stellt klar: Kötbullar gar nicht aus Skandinavien (shz)
Die Wahrheit über Köttbullar (Süddeutsche)
Köttbullar eigentlich türkisch? (Focus)
Fleischbällchen-Lüge! Schweden geben zu: Köttbullar stammen aus anderem Land (derwesten.de)
Schweden legt Geständnis ab (RT deutsch)
Schweden klauen Rezept (Bild)
Köttbullar stammen offenbar aus der Türkei (Spiegel)
Ikea-Lüge schockt das Netz (oe24.at)

Man sieht, daß auch Journalisten, die es besser wissen müßten, gar nicht schnell genug im Zirkus der digitalen Oberflächlichkeit mitmachen können. Da hat also irgendjemand (natürlich „im Netz“) auf Twitter und Facebook folgende Sensation verbreitet:

Swedish meatballs are actually based on a recipe King Charles XII brought home from Turkey in the early 18th century.

Schweden hat seine Köttbullar also gar nicht selbst erfunden, es hat ein türkisches Rezept gestohlen? Ach du lieber Gott – als ob das Kochen sich je an Landesgrenzen gehalten hätte! Wie dumm muß man eigentlich sein, um so eine Diskussion zu entfachen und am Leben zu halten? Nur um ein paar mäßig witzige Pointen („sagt, daß das nicht wahr ist!“) zu posten?

Fast jedes Land der Welt hat seine Hackfleischrezepte, und es gibt diese leckeren Bällchen in tausenden von Variationen, mit allen nur erdenklichen Zutaten und Gewürzen und in allen Formen: kugelrund, plattgedrückt, zylindrisch, groß und klein, und mit hundert verschiedenen Namen:

Frikadelle, Bulette, Hacksteak, Fleischküchle, Fleischpflanzerl (Deutschland), Pljeskavica, Cevapcici (Balkan), Keftedes (Griechenland), Köfte (Türkei), und eben auch Köttbullar (Schweden).

Und das sind nur die gebräuchlichsten europäischen Namen – von den vegetarischen Brätlingen ganz zu schweigen. Wer will da sagen, wo welches Gericht entstanden und wohin es irgendwann ausgewandert ist?

In Griechenland zum Beispiel gehören Tomaten und Paprika an jeden choriatiki. Aber beide Gemüsesorten sind erst nach der Entdeckung Amerikas nach Europa gekommen. Vor Jahren habe ich einmal nachforschen wollen, wann die erste Tomate in Griechenland aufgetaucht ist, und seit wann sie praktisch zu den griechischen Grundnahrungsmitteln gehört. Keine Chance! Kochen ist eben keine Haupt- und Staats-Aktion, deshalb findet man darüber nichts in den Staatsarchiven.

Aber wie spannend wäre es, über die kulinarischen Beziehungen zwischen den Ländern mehr zu erfahren.

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