Die Zeit meint es nicht gut mit Europa. Wir haben zwar – bis auf das fürchterliche Jugoslawien-Gemetzel – lange keine europäischen Kriege mehr gehabt, aber das Feuer, das in so vielen Menschen nach dem Weltkrieg für Europa brannte, ist erloschen. Wie ja überhaupt fast alle Feuer erloschen sind und nur kalte Asche von ihnen übrig ist.
Europa, sagen manche, locke keinen Hund mehr hinter dem Ofen hervor – und doch ist dieses alte, so oft totgesagte Europa ein Ort der Sehnsucht geblieben. Man sieht es sogar in amerikanischen Spielfilmen, wo die geplante Hochzeitsreise nach Paris, France oder nach Venice, Italy den Protagonisten einen Glanz in die Augen zaubert. Europa ist, mit allen seinen Höhen und Tiefen, fast unverwüstlich, es lebt immer noch: es lebt in den Museen und Opernhäusern, in seinen Buchhandlungen, in den Krankenhäusern, um die uns die Welt beneidet. Europa lebt auch in seiner Geschichte, in seinen Literaturen, und es lebt in seiner Demokratie, die ein Leuchtturm der ganzen Welt ist, und in seiner Liberalität.
Ohne das Licht, das von Europa ausgeht, wäre die Welt ein dunkler, unwirtlicher Ort.
Das ist alles gefährdet, natürlich. Alles in der Geschichte ist immerfort gefährdet. Man kann sich nie sicher sein. Große Reiche zerfallen, kleinere, die brutal und gewissenlos genug sind, rücken nach. Die alte Vorstellung, daß die Dinge von Jahrhundert zu Jahrhundert besser und menschlicher werden, war schon immer falsch. Gerade im vergangenen Jahrhundert mit seinen grausamen (und gottlosen!) Diktaturen hat es unvorstellbare Rückschläge gegeben.
Und dennoch: wenn man, dieser extremen Ausschläge ungeachtet, eine statistische Linie zieht, wenn man einen Mittelwert ins Diagramm zeichnet, dann weist diese Linie nach oben. Das ist wenig tröstlich für die Opfer der Grausamkeit, die alle Völker im Laufe ihrer Geschichte erlitten haben. Aber es ist trotzdem gut so.
Und Europa, das für viele der schlimmsten Verbrechen des 20. Jahrhunderts verantwortlich ist (nicht für alle!), ist trotz alledem doch immer wieder zur Humanität zurückgekehrt. Es hat, so scheint es, einen gesunden Kern, immer noch. Europa, da bin ich sicher, wird auch Orbán, Marine Le Pen und die eklige braune Sauce überstehen, die sich jetzt in vielen seiner Länder (leider auch in Deutschland) wieder ausbreitet. Es wird am Ende auch über diese armseligen Bewegungen siegen, die sich in zynischer Verkennung ihrer eigenen geistigen Beschränktheit für die Retter des „christlichen Abendlandes“ halten.
Der österreichische Schriftsteller Hugo von Hofmannsthal hat 1917 (in einer für Europa fürchterlichen Zeit!) im Entwurf zu seiner Berner Rede von einem hoffentlich kommenden „europäischen Ich“ im Gegensatz zu einem Europa des Geldes gesprochen (sehr aktuell!), und er hat skizzenhaft hinzugefügt:
Es werden vereinzelte Individuen sein, eine stille Gemeinde, die schon da war, in denen die letzte Phase des Begriffes Europa sich verteidigt und vertieft. Von hier allein Europa als die geistige Grundfarbe des Planeten empfunden, das Europäische als der absolute Maßstab aufgestellt, das jeweilig Nationale immer wieder an ihm gemessen und korrigiert.
Das ist das Europa, das ich mir wünsche. Es wird nie untergehen: weil immer so eine „stille Gemeinde“ da sein wird, die auch in schlimmster Zeit die Fackel hochhält.
Und nach dem Winter kommt immer ein Frühling.