Vierzig Jahre lang hat die SED versucht, die Religion in ihrem Staatsgebiet auszurotten. Die Mittel waren selten subtil, meistens hat sie dazu die geballte Macht des Staates eingesetzt. Der Atheismus war Teil der marxistisch-leninistischen Weltanschauung, er hat die Menschen von der Wiege bis zur Bahre begleitet, und daß die Pfaffen dem Volk nur Opium verabreichen, war eine ausgemachte Sache.
Aber so ganz erfolgreich waren sie am Ende doch nicht. Gerade die „Pfaffen“ waren es ja, die zum harten Kern der Montagsdemonstrationen wurden, um sie hat sich das Volk geschart, und mit ihnen hat es gesiegt. Und doch – dieser täglich eingebleute, oft erschreckend primitive Atheismus hat sich in den neuen Bundesländern als zäh und langlebig erwiesen.
Ein Beispiel ist die Jugendweihe, die zwar eine lange Geschichte hat, aber doch in der DDR in erster Linie dazu da war, die religiösen Feiern zurückzudrängen und zu ersetzen. Wer nicht teilnahm, mußte mit schweren persönlichen Konsequenzen rechnen. Vor diesem Hintergrund bleibt es rätselhaft, daß diese so gründlich desavouierte Institution immer noch am Leben ist. Noch zehn Jahre nach der Wende sollen in den neuen Bundesländern bis zu 40 % der Jugendlichen an der Jugendweihe teilgenommen haben. Organisiert werden diese Feiern, wenn man den Wikipedia glauben darf, von Vereinen und „freigeistigen, freidenkerischen und humanistischen Organisationen“, oder – sagen wie es einmal pointiert – von Sekten. Denn auch der Atheismus ist ja nichts anderes als eine Religion, und auch er hat ein buntes Spektrum von (oft skurrilen!) Sekten. Daß die den Begriff des Humanismus für ihre hausbackene Freidenkerei usurpieren, ist freilich schon ein bißchen unverfroren.
Wie bin ich jetzt überhaupt auf dieses Thema gekommen? Ach ja – ich habe gestern in der F.A.Z. gelesen, daß in den Bäderstädten von Mecklenburg-Vorpommern die Kaufleute zu Wutbürgern werden. Und warum? Dazu muß man ein wenig ausholen: gleich nach der Wende wurde in 149 Ferienorten des Landes der Sonntag praktisch abgeschafft, die Läden durften dort an 49 (!) Sonntagen im Jahr geöffnet werden. Nachdem die beiden Kirchen gegen diesen Akt von kultureller Barbarei zurecht (und wahrscheinlich viel zu spät) Klage eingereicht haben, hat man sich im letzten Jahr zusammengesetzt und einen Kompromiß ausgearbeitet, der ein paar Änderungen in der Vor- und Nachsaison vorsieht. Schon diese Einschränkung ist auf den energischen Widerstand der Gewerbetreibenden gest0ßen. Die Besitzerin eines Einzelhandelgeschäfts in Boltenhagen klagt:
Ich bin auf die Sonntage angewiesen, auch auf die im Herbst und im Frühjahr. Wissen Sie, wie hoch die Miete für mein Geschäft ist? Das muß erst einmal erwirtschaftet werden.
Eines stimmt an dieser Aussage: die Vermieter von gewerblichen Immobilien werden mit ihren Mieterhöhungen immer dreister. Sie sind die Hauptschuldigen dafür, daß die Innenstädte fast ausschließlich von finanziell leistungsfähigen Ketten dominiert werden. Aber sollen wir für sie jetzt auch noch den Sonntag opfern, weil kleinere Geschäfte sonst nicht über die Runden kommen?
Im übrigen ist unsere Verfassung hier eindeutig. In Art. 140 bestimmt sie, daß der Art. 139 der Weimarer Verfassung Bestandteil des Grundgesetzes ist. Er lautet:
Der Sonntag und die staatlich anerkannten Feiertage bleiben als Tage der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung gesetzlich geschützt.
Nun mag es für viele Menschen eine seelische Erhebung bedeuten, wenn die Kasse klingelt, aber die Väter des Grundgesetzes, das im übrigen eine der besten Verfassungen der Welt ist, haben es so ganz bestimmt nicht gemeint.
Die katholische Kirche hat jetzt – zurecht! – auch gegen diesen faulen Kompromiß bei der Sonntagsöffnung Klage eingereicht. Das ist ihr gutes Recht – und ich wünsche ihr allen Erfolg. Die Einzelhändler in den Badeorten aber, für die das, was man den „heiligen Sonntag“ nennt, offenbar genauso wurscht ist wie unser Grundgesetz, schnauben vor Wut. Von Haß ist die Rede, vom Kirchenaustritt, und überhaupt: die Kirchen seien „mittelalterlich“.
Ach, wenn unsere Kirchen doch noch viel öfter so mittelalterlich wären, statt sich stromlinienförmig an jeden dummen Trend anzupassen! Es ist nämlich nicht ihre Aufgabe, Geschäftemachern beim Geschäftemachen und Händlern beim Handeln zu helfen. Das mögen andere tun. Und auch Frau B. aus Boltenhagen wird einmal merken, daß es in ihrem Leben (und erst recht in ihrem Sterben) Wichtigeres gibt als das Klingeln der Kasse.