Ich habe nun wirklich keine Illusionen über unsere Kanzlerin, das kann man in diesem Tagebuch, das über sie mehr als giftgrün berichtet hat, nachlesen. Ihre Politik des Dahinwurschtelns hat mir nicht behagt, es war darin nie eine richtige Mitte zu finden – von einer Vision ganz zu schweigen. Ihre dummen Sätze (etwa der, daß das Schicksal Europas vom Euro abhänge) und ihre einsame Entscheidung, eines der großen Industrieländer der Erde ausgerechnet von der Windkraft abhängig zu machen, waren und sind fatal, gerade in den Folgen für die Wirtschaft und die privaten Haushalte.
Aber dann kam – die neue Völkerwanderung.
Hunderttausende von Menschen flohen aus den Lagern rund um Syrien (und aus Syrien selbst) und wälzten sich über den Balkan nach Mitteleuropa. Aufgehalten wurden sie – in besonders schäbiger, unmenschlicher Weise – vom ungarischen Orbán-Regime. Jedem Hund in einem deutschen Tierheim geht es besser, als es den Flüchtlingen unter der Knute von Orbáns Polizisten und Grenzschützern gegangen ist. Man hat sie dort wie Aussätzige, wie Untermenschen behandelt, man hat ihnen Essen und Trinken verweigert („wir haben sie ja nicht eingeladen“, ließ das Regime ausrichten!), und die Bilder etwa von Frauen, die ohne ärztlichen Beistand auf dem Feld ihre Kinder zur Welt bringen mußten, werden für alle Zeit Schande über das Orbán-Regime bringen.
In diesem historischen Moment hat Angela Merkel gehandelt – so wie einst Helmut Kohl in einem ebenso geschichtlichen Augenblick, nämlich nach dem Zusammenbruch der DDR, klug und schnell (und richtig!) gehandelt hat. Beiden hätte man das vorher nicht zugetraut, und beide werden dafür in die Geschichtsbücher eingehen.
Die Kanzlerin hat die in Ungarn mißhandelten syrischen Flüchtlinge unbürokratisch aufgenommen und eine Politik des „freundlichen Gesichts“ gezeigt. Das kann man ihr nicht hoch genug anrechnen. Die meisten deutschen Politiker – egal, aus welcher Partei sie kommen – hätten diesen Mut nicht gehabt. Die große Überraschung war, daß Merkel ihre Entscheidung auch dann noch verteidigt hat, als die Kleingeister und Bedenkenträger, allen voran der nur an Körpergröße bedeutende Horst Seehofer, über sie hergefallen sind. Nun ja, sagen diese Erbsenzähler heute: das mag ja damals aus humanitären Gründen richtig gewesen sein, aber – das Recht! der Schutz der Grenzen! die Sicherheit des Volkes!
Und dann schütten diese Schaumschläger ihren Dreck auf die Kanzlerin aus, Tag für Tag, und ohne Hemmung und (vor allem!) ohne Verstand. Die CSU, die SPD – sie wissen heute alles besser, und es klingt peinlicherweise, als seien sie in der Opposition. Seehofer hetzt mit seinem Geschwätz von der „Obergrenze“ das ganze Land auf, er ist deshalb einer der Hauptverantwortlichen für den gefährlichen Siegeszug der Rest-AfD.
Natürlich ist eines richtig: die Kanzlerin ist bald nach ihrer kraftvollen und bravourösen Entscheidung wieder in ihren gewohnten Wurschtel-Modus verfallen. Aber niemand (schon gar nicht der großspurige Seehofer) hat mir bisher erklären können, wie man die deutschen Grenzen in einer Weise sichern kann, die vor dem Bundesverfassungsgericht und dem Europäischen Gerichtshof Bestand hat.
Auf einmal ist die Kanzlerin an allem Übel in der Welt schuld. Jeder Depp glaubt, daß er sie anpöbeln kann, jeder ist klüger als sie. Und vor allem: jeder hat schon vorher gewußt, wie es kommen würde!
Nur die Kanzlerin nicht.
Nicht Orbán, die polnische Regierung, nicht die zwei Dutzend anderen Länder, die nicht einen einzigen Flüchtling aufgenommen haben, sind schuld, sondern, natürlich, Angela Merkel. Sie wird zum Prügelknaben von ganz Europa gemacht.
Wie gesagt: ich bin kein besonderer Freund der Kanzlerin. Aber so schäbig, wie sich jetzt ihre politischen Gegner (und noch schlimmer: ihre politischen „Freunde“!) verhalten, das ist kaum zu ertragen.