Kirchenaustritte

Es wird niemanden wundern, daß die Zahl der Austritte aus der katholischen Kirche im letzten Jahr stark gestiegen ist. Obwohl sich die meisten Mißbrauchsfälle nicht in der Kirche ereignen, sondern in der Familie, im Sportverein und in Internaten, nimmt man solche Fälle der Kirche – zurecht! – ganz besonders übel. So etwas darf einfach nicht sein, hier wird ein Vertrauensverhältnis zerstört, das kaum wieder zu kitten ist. Es kommt noch hinzu, daß die Behandlung  solcher Fälle durch die Kirchenadministration erschreckend war: statt sich um die Opfer zu kümmern und die Täter anzuzeigen, hat man in vielen Fällen versucht, die betroffenen Priester aus der Schußlinie zu nehmen und alles zu vertuschen. Die Priester wurden versetzt und konnten so oft weitere Kinder mißbrauchen. Die fromme Erwartung, daß sie nach der Versetzung von ihrem Tun ablassen würden, muß man (günstigensfalls!) als naiv und fahrlässig bezeichnen.

Das ist die eine Seite der Sache.

Die andere ist, daß Benedikt XVI. schon auf die irischen Mißstände schnell und mit geradezu unvatikanischer Direktheit reagiert hat. Er hat die Mißbrauchsfälle zur Chefsache gemacht und dafür gesorgt, daß auch die deutschen Vorschriften weiter verschärft wurden. Ein Täter in der Kirche hat jetzt, sobald ein Verdacht gegen ihn auftaucht, keine Chance mehr, sich der Justiz zu entziehen.

Trotzdem kann ich die vielen Kirchenaustritte nicht ganz verstehen.

Die Motive sind ja recht vielschichtig: das reicht vom Einsparen der Kirchensteuer bis hin zu den Fällen, wo einem Menschen im Lauf des Lebens einfach der Glaube abhandengekommen ist. Auch der primitive, aber forsch und gebieterisch auftretende Atheismus, wie er aus England zu uns gekommen ist, wird ein übriges tun.

Aber austreten, weil es das Böse auch innerhalb der Kirche gibt?

Die Menschen innerhalb der Kirche sind doch nicht anders als die außerhalb der Kirche! Es sind Menschen, und da ist – im Guten wie im Bösen – buchstäblich alles möglich. Natürlich ist es nicht schön, daß es unter den Christen auch Heuchelei, Mißgunst und sogar schlimme Verbrechen gibt, aber alles andere wäre – ein Wunder. Im übrigen glaubt man als Christ ja nicht an den Menschen, sondern an den lieben Gott.

Aber man sollte sich keine Illusionen machen: auch wenn die Aufarbeitung der Mißbrauchsfälle konsequent fortgeführt wird, könnte es Jahre dauern, bis sich die katholische Kirche wieder halbwegs konsolidiert hat.

Besonders leid tut es mir dabei um Benedikt XVI. – er wird jetzt, ohne daß er etwas dafür kann, in diesen Strudel hineingezogen. Dabei ist er für die Kirche ein Glücksfall, wie man ihn selten findet: nicht weil er ein „deutscher“ Papst ist, sondern weil er – schärfer als je ein Papst zuvor – der Vernunft im Verhältnis zum Glauben größtes Gewicht einräumt. Das alte credo quia absurdum ist damit endgültig ad acta gelegt.

Aber die Tragweite dieser Revolution im (schon immer spannungsreichen) Verhältnis von Glaube und Vernunft – und um nichts anderes handelt es sich hier! – werden wohl erst die kommenden Generation verstehen.

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