Das hätte ich mir auch nicht träumen lassen, daß ich einmal die Bundeskanzlerin gegen einen unserer führenden Historiker in Schutz nehmen muß.
Aber ich tue es. Mein Tagebuch ist ohnehin „antizyklisch“ (so hieß das einmal bei Plisch und Plum, also Franz Josef Strauß und Karl Schiller, im Kabinett Kiesinger der 60er Jahre). Es kommt letztlich nie auf Meinungsumfragen an, sondern auf die Kraft der Argumente. Je stärker der Gegenwind, umso verdienstvoller ist es, sich ihm mit guten Argumenten entgegenzustellen.
Der 70jährige Heinrich August Winkler ist einer der renommiertesten deutschen Historiker. Er hat – mancher wird sich noch daran erinnern – am 8. Mai 2015 im Bundestag die Rede zum 70. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs gehalten.
„Wer hätte sich nicht gefreut“, schreibt Winkler zu Beginn eines Gastbeitrages für die F.A.Z. (hier nachzulesen), „als Zehntausenden Flüchtlingen in München und andernorts ein freundliches Willkommen zuteilwurde“. Das klingt positiv, enthält aber versteckt ein deutliches Aber. Und das zieht sich durch den ganzen Beitrag, den man kurz und bündig so zusammenfassen könnte: ist ja alles schön und gut, aber …
Es ist ein kluger, lesenswerter Artikel, der aber (leider!) einen gar nicht so schönen, oft befremdlichen Subtext hat.
Das fängt schon mit dem Titel an: „Deutschlands moralische Selbstüberschätzung“. Es ist ja keineswegs „Selbstüberschätzung“, wenn man Menschen in Not hilft. Die Helfer, die zu den Bahnhöfen geeilt sind, wollten damit nicht beweisen, wie moralisch Deutschland ist, sie wollten einfach nur – helfen. Daß es, für die ganze Welt überraschend, so viele waren, kann man nur kritisieren, wenn man einen verqueren Blick auf die Wirklichkeit hat. Es trifft auch nicht zu, daß „Deutschland“ sich mit der eigenen Hilfsbereitschaft gebrüstet hätte. Der Tenor in den Medien war eher ein großes Erstaunen: so wie wenn etwas eintritt, das man überhaut nicht erwartet hätte. Die wenigen selbstgefälligen Bemerkungen kamen erst viel später und aus dem Munde nicht ganz so bedeutender Politiker.
Winkler schreibt:
Manche Deutsche neigten zu sonderbaren Bekundungen eines vage „links“ anmutenden Nationalstolzes, der nicht frei war von Zügen der Selbstgefälligkeit, ja der Selbstgerechtigkeit.
Das ist nun wirklich kein Subtext mehr, sondern fast schon eine Denunziation. Was ein „links anmutender Nationalstolz“ ist, erschließt sich mir nicht. Die politische Linke war doch immer gegen jeden Nationalstolz, sie war ja im Laufe ihrer Geschichte nicht einmal in der Lage, zwischen Patriotismus und Nationalismus zu unterscheiden.
Und noch eines: die Freude, die jeder halbwegs normale Mensch empfindet, wenn er anderen helfen kann, ist doch um Himmels willen keine „Selbstgerechtigkeit“!
Man merkt, daß Winkler die ganze Sache nicht geheuer, ja fast zuwider ist. Daß Deutschland auf einmal zu einem „Sehnsuchtsland“ geworden sei, habe ein bekannter Sozialpsychologe „wohlgefällig“ (!) geschrieben. Winkler fragt süffisant, ob Deutschland jetzt die „moralische Leitnation Europas“ und eine „Großmacht der Werte“ sein wolle.
Soll am geläuterten deutschen Wesen nunmehr, wenn schon nicht die Welt, so doch Europa genesen?
Er spricht von einer „neuen deutschen Sendung“, von einer „Erlösernation“, die „weltweit das Gute verwirklichen“ will und meint:
Dem neuen deutschen Selbstbewusstsein haftet etwas eigentümlich Verstiegenes an.
Aber warum dieser ironische Ton? Warum wirken alle seine Sätze über „Deutschland“ vergiftet? Man wird das Gefühl nicht los, daß Winkler selbst sich hier verstiegen hat. Er will diese schöne Geste der Deutschen auf Biegen und Brechen schlechtreden. Aber gibt es denn so etwas überhaupt: zuviel Hilfsbereitschaft?
Angela Merkel hat aus einem politischen und moralischen Instinkt heraus eine richtige Entscheidung getroffen. Sie hat die syrischen Flüchtlinge, damals fast alles Familien mit kleinen Kindern, aus den Händen des ungarischen Regimes gerettet. Daß sie so energisch gehandelt hat und bis heute dazu steht (auch wenn der glücklose Seehofer jetzt seine große Zeit kommen sieht), das hätte ich ihr nicht zugetraut.
Man kann sie nur bewundern.
Alles andere, was Winkler dann über die praktische Bewältigung des Flüchtlingsstroms (und seine Begrenzung) schreibt, ist wieder vernünftig. Aber das ist jetzt die Aufgabe der Politiker. Natürlich ist das Boot irgendwann voll: Deutschland ist ja, verglichen mit den großen Einwanderungsländern Kanada, Australien und den USA, ein kleines Land, das die vielen Flüchtlinge schon jetzt kaum mehr unterbringen kann. Wenn man die Flüchtlinge nicht mehr beherbergen kann, muß man sie schon an den Grenzen zurückweisen.
Aber das ist eine Sache der praktischen Vernunft. Mit der süffisanten Denunzierung der deutschen Hilfsbereitschaft und der angeblichen „Selbstgerechtigkeit“ hat das nichts zu tun. Hier wird von Winkler – leider – ein Popanz aufgebaut, den man einem so vernünftigen Mann nicht zugetraut hätte.