In einer Buchbesprechung im Feuilleton der F.A.Z. vom 7. Juli lese ich verwundert folgenden Satz:
Dass die Welt nicht so ist, wie sie der menschliche Wahrnehmungsapparat zurichtet, ist heute, in Zeiten der Hirnforschung und der evolutionären Erkenntnistheorie, eine Selbstverständlichkeit.
Heute? In Zeiten der Hirnforschung? Mit Verlaub, über die Frage, ob die Welt so ist, wie wir sie wahrnehmen, haben die Philosophen seit über zweitausend Jahren nachgedacht – mit ganz wunderbaren Ergebnissen. Eines davon ist das berühmte Höhlengleichnis, das man am besten im Original nachlesen sollte: man findet es in Platons Politeia.
Das philosophische Nachdenken über die Bedingungen und Grenzen menschlicher Erkenntnis ist ureigenes philosophisches Terrain – es führt von Platon über Kant bis zu Schopenhauer, übrigens einem der größten (und am meisten unterschätzten) Philosophen überhaupt. Was wir heute erleben, ist der Versuch der Naturwissenschaften (nicht nur der Hirnforschung!), ihre Deutungs- und Erkenntnishoheit auf Bereiche auszudehnen, zu denen sie qua Naturwissenschaft nichts, aber auch gar nicht beizutragen hat. Dann kommt es zu so abstrusen Erfindungen wie dem „Gottes-Gen“, Hawkings „Beweis“, daß Gott nicht existiert, und den zurecht sehr umstrittenen Thesen der Hirnforscher.
Im Kern geht es hier darum, daß die Naturwissenschaftler sich nur zu gern ein völlig fremdes Territorium einverleiben möchten. Ganz allgemein „als Menschen“ dürfen sie natürlich nach Herzenslust philosophieren oder über das Transzendente nachdenken – aber eben nur so, wie jeder andere Mensch auch. In allen Dingen aber, die über den engen Bereich der verifizierbaren und falsifizierbaren Wahrheiten hinausgehen, werden sie wieder zu Laien und stehen auf einer Stufe mit allen anderen Menschen. Das sind Bereiche, in die sie ihren Bonus als Naturwissenschaftler nicht mitnehmen dürfen.
Erschreckend ist freilich immer wieder, wie unbedarft die meisten Naturwissenschaftler, vor allem die jüngeren, in philosophischen und theologischen Angelegenheiten sind. Ihre Zeitrechnung beginnt in etwa vor 200 Jahren – alles, was davor war, interessiert sie nicht, das ist für sie „vorwissenschaftlich“, mythisch, wenig mehr als poetischer Krimskrams. So zwingen sie sich selbst, das Rad immer neu zu erfinden.
Natürlich gibt es, wie meistens, rühmliche Ausnahmen. Eine davon ist der Astrophysiker Harald Lesch. Er ist ein entschiedener (und sehr eloquenter!) Vertreter seiner Wissenschaft, aber seine Neugier geht weit über das Fach hinaus, und er hat überhaupt keine Scheu, mit Philosophen oder katholischen Theologen zu diskutieren. Man merkt ihm an, daß er seine Wißbegier nicht auf die Grenzen seines Fachbereichs beschränken will.
Solche Naturwissenschaftler braucht das Land! Von den anderen, die über zweitausend Jahre Philosophie verächtlich hinweggehen, haben wir mehr als genug.