Wer gestern Erdogan gewählt hat, wird bekommen, was er sich durch seine Stimmabgabe eingebrockt hat, denn gegen Dummheit ist kein Kraut gewachsen. Das gilt übrigens nicht nur für die Türkei, auch wir in Deutschland haben uns im Laufe unserer Geschichte schon manches eingebrockt. Es ist nun einmal so, daß die Demokratie – wenn sie denn wirklich funktionieren soll – gebildete Staatsbürger voraussetzt.
Diese Voraussetzung ist, um es zurückhaltend auszudrücken, nicht immer und überall gegeben.
In der Türkei kommt aber noch etwas anderes hinzu. Erdogan hat sein Land geschickt und mit sozusagen bäuerlicher Raffinesse islamisiert. Rabiate Änderungen an der von Atatürk erzwungenen Ordnung, das hat er aus fehlgeschlagenen Versuchen gelernt, mußten scheitern. Also ist er nach einem geheimen Masterplan vorgegangen. In kleinen Schritten hat er nach und nach die alten Eliten ausgeschaltet und die Islamisierung vorangetrieben: das reichte vom Lob des Kopftuchs bis zum Alkoholverbot. Dabei war ihm jedes Mittel recht: erfundene Verschwörungsvorwürfe, Schauprozesse gegen Richter und Journalisten, gewaltsame Niederschlagung auch friedlicher Demonstrationen und Einschränkung der Pressefreiheit bis hin zum Verbot von sozialen Netzwerken.
Hätte er das alles mit einem Schlag versucht, er wäre sofort aus dem Amt geworfen worden. So aber hat er mit seiner bauernschlauen Salamitaktik die Mehrheit der Türken Schritt für Schritt an den Niedergang aller demokratischen Gepflogenheiten gewöhnt.
Die Sehnsucht nach einem starken Führer – dem büyük lider – ist in der Türkei überall gegenwärtig, und diese Rolle spielt er perfekt. Das alles hat es auch bei uns im Westen gegeben, aber wir haben aus den historischen Erfahrungen gelernt. Die türkische Liebe zum großen lider ist dagegen naiv und unbefleckt.
Ein schmerzliches Resümmee müssen wir leider ziehen: es wird in islamischen Ländern auf absehbare Zeit keine demokratische Ordnung geben. Gerade Erdogans neue Türkei zeigt: je islamischer, desto weniger demokratisch. Dieser Zusammenhang ist nicht zu leugnen, wenn man auch über die Gründe streiten mag. Ich bin der festen Überzeugung, daß der Islam, so wie er heute ist – den von morgen, wenn denn je ein anderer kommen sollte, kennt ja noch niemand! -, daß also der heutige Islam keine Demokratien mehr hervorbringen wird.
Ich war, wie viele andere auch, optimistisch, daß die „Arabellion“, der Aufstand der aufgeklärten, jungen Bürger überall in den muslimischen Ländern, einen Wandel zu mehr Demokratie herbeiführen könnte. Ich habe mich getäuscht. Diese aufgeklärte Schicht gibt es zwar, und man kann sie für ihren Mut gar nicht genug bewundern, aber sie ist viel zu schwach, um an der übermächtigen strukturellen (und theologischen!) Feindschaft gegen alles Demokratische etwas zu ändern. Da wird es Besserung wohl erst in Jahrzehnten oder Jahrhunderten geben.
In der Türkei muß man jetzt um die liberalen Kräften im Land bangen, denn Sultan Erdogan, dessen Größenwahn in den letzten Jahren fast pathologische Züge angenommen hat, wird jetzt noch mehr wüten. Er hat es schon angekündigt. Sein Vernichtungsfeldzug gegen die freie Presse und das Internet wird weitergehen.
Nur eine kleine Frage noch zum Schluß: ist die Türkei nicht Mitglied der NATO, die sich gern als „Wertegemeinschaft“ darstellt? Rechtfertigt die strategische Bedeutung eines Landes eigentlich alles? Kann man Putin noch ernsthaft kritisieren, wenn man einem Erdogan alles durchgehen läßt?
Das sind Fragen, über die man zumindest einmal nachdenken sollte.
PS: Die Türkei hat 1974 mit einem militärischen Handstreich Zypern überfallen und den Norden der Insel annektiert – und zwar fast mit den gleichen Begründungen wie jetzt Putin: alles nur zum Schutz der eigenen Landsleute! An der türkischen Mitgliedschaft in der Wertegemeinschaft NATO hat auch der Überfall auf Zypern nichts geändert.