Das heutige Regietheater lebt parasitär: ohne die Subventionen aus Steuermitteln wäre es mit ihm schnell zuende.
Wäre das schade? Wirklich nicht.
Im Gegenteil: wenn man will, daß aus dem Pubertätstheater von heute wieder ein wirklich kluges, aufgeklärtes, inspirierendes Theater wird, dann sollte man die Subventionierung vielleicht (zumindest für einige Jahre) ganz streichen. Nur so könnte man die Verbindung von billigem Provokationstheater bei gleichzeitiger Finanzierung durch das von den Regisseuren im Grunde verachtete Steuerzahlerpublikum aufbrechen und den Herren Regisseuren deutlich sagen: WIR SIND DAS PUBLIKUM!
Das Regietheater vertreibt die Menschen aus den Theatern, statt sie zum Kommen zu verleiten. Seine Position zu den Stücken der dramatischen Weltliteratur ist die eines ewig Pubertierenden. Wer noch nicht erwachsen ist, mag diesen abendlichen Cocktail aus Körpersäften genießen – für einen Erwachsenen ist es eine Zumutung.
Aber viel schlimmer noch, als es die Aufführungen selbst sind, sind die großspurigen Begründungen für sie.
1) PROVOKATION! Nehmen wir nur einmal den „nackten Mann auf der Bühne“. Ein gewisser Prof. Englhart, seines Zeichens Universitätsdozent, sagt in seinem Artikel „Zehn Gründe, warum Sie 2014 häufiger ins Theater gehen sollten“ (hier nachzulesen):
Selbstverständlich ist ein nackter Schauspieler, der leibhaftig ein paar Meter vor Ihnen steht und Sie anblickt, weit beeindruckender als ein Bildschirmnackter.
Beeindruckender? Also, da kann man wirklich geteilter Meinung sein. Immerhin ist das Theater schon ein paar tausend Jahre ganz ohne Nackte ausgekommen, was der Herr Universitätsdozent sicher weiß. In den 60er und 70er Jahren mag Nacktheit als eine Form der Provokation noch gewirkt haben, aber heute? Wenn man in allen Medien von Nackten umgeben ist, wäre es doch wohl eher eine Provokation, einmal ein Stück ohne Nacktheit auf die Bühne zu bringen! (Was mutatis mutandis auch für die Körpersäfte gilt.)
2) INFRAGESTELLEN! Ins Theater soll ich gehen, meint Prof. Englhart, weil
Regietheater durch Besetzung und Figurenzeichnung gegen die Erwartung (indem etwa eine Schauspielerin den Othello spielt) Stereotypen infrage stellt.
Ach jehchen! Dieses Spielen gegen die Erwartung ist doch längst einer der ältesten Hüte des Theaters. Man kann sich als Zuschauer fest darauf verlassen, daß jede Inszenierung immerfort meine Erwartungen in Frage stellen will. Und das soll jetzt neu oder aufregend sein? Nein – es ist einfach nur langweilig.
3) VERSTÖREN! Das Theater, sagt der Herr Universitätsdozent, muß verstören:
Das Geschehen auf der Bühne sollte gerade in seiner Fähigkeit, zu verstören, fremd zu sein, nicht zu passen und zum Nachdenken anzuregen, geschätzt werden.
Merken Sie, wie geschickt Prof. Englhart da die Dinge miteinander verquickt? „Zum Nachdenken anregen“ kann Theater seiner Ansicht nach nur, wenn es verstört, wenn es „fremd“ ist. Was für ein Unfug! Seit Äschylos und Aristophanes hat Theater immer dann am meisten bewirkt, wenn es die Herzen angerührt hat. Das Publikum anrühren, bewegen, das ist das Geheimnis des Theaters. Provokation kann, selbstverständlich, dazugehören. Niemand will auf der Bühne nur noch pilchereskes Boulevardtheater sehen.
Aber dieses stupide und kindische Provozieren, dieses pubertätshafte „Verstören“ des Publikums durch (doch wohl erwachsene) Regisseure, dieses 68erhafte Kopulieren, Masturbieren, Urinieren auf der Bühne – das will doch keiner mehr sehen, der die Menschwerdung erfolgreich hinter sich hat.
Darf ich nach dieser Philippika am Ende auch etwas Positives erzählen? Wir haben vor einer Woche im Frankfurter Cantatesaal Molières Schule der Frauen mit Michael Quast in der Hauptrolle gesehen. Es war eine Aufführung in hessischer Mundart, aber wer jetzt meint, das sei dann eben so eine „volkstümliche“ Bearbeitung des Originals gewesen, täuscht sich sehr. Dialekte sind ja viel ausdrucksvoller und gerade in Gefühlsäußerungen differenzierter und lebendiger als die Hochsprache. Und wenn dann ein Schauspieler wie Quast die Hauptrolle spielt, der (vollständig bekleidet!) nur mit seiner Sprache, seiner Mimik, seinen Gesten, also mit seiner schauspielerischen Präsenz auf der Bühne steht, dann, lieber Herr Professor Englhart, kann man erleben, was Theater ist.
Da pfeif ich auf Ihr Regietheater.