Die Naturwissenschaftler, der „Zweck“ der Natur und ein Zitat von Goethe

Unsere Naturwissenschaftler leiden fast alle an einer Art Zwangsstörung, die freilich in der Fachliteratur noch keinen Namen hat. Kaum entdecken sie nämlich irgendetwas Neues in der Natur, suchen sie nach dessen Zweck oder (wie sie es selbst ausdrücken) nach dessen evolutionärem Nutzen. Sie können einfach nicht anders. Wenn Vögel singen, dann darf das nur einen Zweck haben: Revierverhalten und Anlocken einer Partnerin. Wenn man aber zu bedenken gäbe, daß der Gesang darüber hinaus doch auch ein Ausdruck von Lebensfreude sein könnte, schütteln sie nur mit dem Kopf. Lebensfreude? Bei einem Vogel?

So wie sie die Gefühlswelt der Tiere unterschätzen und auf das Prokrustesbett ihrer theoretischen Modelle spannen, so unterschätzen sie auch immer wieder deren Intelligenz. Viele Vögel haben eine Intelligenz, die es mit der eines kleinen (Menschen-) Kindes ohne weiteres aufnehmen kann. Wenn das dann durch eine Studie bestätigt wird, stehen unsere Naturwissenschaftler immer von neuem geöffneten Mundes da und wollen es nicht glauben.

Diese Zwangsstörung der Naturwissenschaftler, die zur Unterordnung des reichen und letzlich unerforschlichen Lebens der Tiere unter ihre Modelle führt, ist auch ein Zeichen geistiger Armut. Gewiß, die von ihnen erarbeiteten Modelle und Axiome decken einen großen Teil des sichtbaren (also oberflächlichen) tierischen Verhaltens ab, und einige von ihnen, wie etwa Darwins Evolutionstheorie, haben vieles aufgehellt. Aber es sind doch eben nur Modelle, und damit graue Theorie. An die Tiefe und Vielfalt des tierischen Lebens kommen sie nicht heran. Sie zeigen uns nur ein totes Skelett der Wirklichkeit.

Woran liegt es nun, daß die Naturwissenschaften, trotz ihrer großen Fortschritte, so engstirnig wirken? Es liegt auch daran, daß sie alle Philosophie meiden wie der Teufel das Weihwasser. Damit verzichten sie freiwillig und ohne Grund auf die Möglichkeit, ihren engen Horizont auszuweiten. Sie halten sich an ihre Methoden, und von allem, was darüber hinausgeht, wollen sie nichts wissen. Das führt dazu, daß sie zwar im kleinen sehr erfolgreich sind, das große Ganze aber aus den Augen verlieren. Der faustische Drang zu erkennen, „was die Welt im Innersten zusammenhält“, ist ihnen fremd geworden.

In einem Brief an Zelter, den ich eben gelesen habe, schreibt im Januar 1830 der schon über 80jährige Goethe:

Es ist ein grenzenloses Verdienst unsres alten Kant um die Welt, und ich darf auch sagen um mich, daß er, in seiner Kritik der Urteilskraft, Kunst und Natur nebeneinander stellt und beiden das Recht zugesteht: aus großen Prinzipien zwecklos zu handeln. Natur und Kunst sind zu groß, um auf Zwecke auszugehen, und habens auch nicht nötig.

Sie haben also auch nicht den Zweck, sich in ein naturwissenschaftliches Schema pressen zu lassen. Ältere und kügere – fast hätte ich gesagt: weisere! – Wissenschaftler wissen das.

Letztlich kommt man immer wieder auf den wissenschaftlich kaum faßbaren Begriff des Lebens, den Philosophie und Theologie viel besser traktieren und viel tiefer erfassen als die Erbsenzähler der naturwissenschaftlichen Disziplinen.

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