Der Fall Strauss-Kahn wird diesseits und jenseits des Atlantiks mit einer Schärfe diskutiert, die überrascht. Sind Europa und die USA denn nicht gerade durch ihre gemeinsamen Werte, zu deren innerstem Kern die Rechtstaatlichkeit gehört, eng verbunden?
Bei Maybrit Illner war gestern abend auch die US-Journalistin Heather DeLisle zu Gast. Sie ist in Deutschland geboren, arbeitet als Korrespondentin u.a. für ABC und bekennt sich zur Republikanischen Partei (was in unserem Fall aber weniger wichtig ist). Schon viel interessanter war, wie aggressiv sie ohne eine Spur von Nachdenklichkeit das amerikanische Rechtssystem vertreten hat.
Während sich ihre deutschen Kollegen eher differenziert und durchaus auch selbstkritisch über den Zustand der Dinge in Europa äußern, feuert sie nur Breitseiten gegen Europa ab. Natürlich werden in den USA alle Mensch gleich behandelt, vom IWF-Chef bis zum Zimmermädchen, dagegen herrschen im alten Europa (so klingen jedenfalls ihre Einlassungen) noch immer Geld, Macht und Adel. Die Unschuldsvermutung hat bei ihr fast keinen Stellenwert. Daß Strauss-Kahn der „Täter“, das Zimmermädchen das „Opfer“ ist, wird vorausgesetzt. Ein Mann, der doch zunächst eines Verbrechens nur beschuldigt wird, aber keineswegs überführt ist, wird in Handschellen vorgeführt, und Frau DeLisle macht aus diesem üblen Spektakel einen Triumph der democracy. Sie instrumentalisiert damit nicht nur den (vermeintlichen) Täter, sondern auch das (vermeintliche) Opfer.
Maureen Dowd schreibt in ihrer Kolumne in der New York Times von einer „begeisternden Geschichte“, weil „selbst einem Zimmermädchen“ (!) Würde zugestanden wird, wenn es „einen der mächtigsten Männer der Welt bezichtigt, ein Raubtier zu sein“. Muß man bei einer solchen Wortwahl noch etwas über Vorverurteilung und Unschuldsvermutung sagen?
Ja, Frau DeLisle, ich lebe im „alten Europa“ (wie es der in jeder Hinsicht unsägliche US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld einmal ausgedrückt hat). Und ich danke Gott dafür, daß ich hier lebe! Ich weiß, daß auch unser Rechtssystem seine Schwächen hat, aber wer auch immer bei uns in die Mühlen der Justiz gerät (und das kann manchmal ganz schnell gehen), ist so lange unschuldig, bis ihn ein Richter verurteilt hat. Der Pranger hat bei uns (anders als in den Vereinigten Staaten) ausgedient – und wir wollen ihn auch nicht wiederhaben.
Im übrigen sollte ein Land, das seine Landsleute mit bestialischen Methoden „hinrichtet“ (inzwischen sind es an die fünfzig Vollstreckungen pro Jahr), besser einmal über das eigene Rechtssystem nachdenken. Frau DeLisle freilich, die seltsamerweise auch für die Deutsche Welle arbeitet, wird das wohl nicht tun. Für sie gehört die Todesstrafe zu den „amerikanischen Werten“, für die sie kämpft.