Immer wenn man in der Presse den Namen Lawrow liest, hält man unwillkürlich den Atem an. In welches Fettnäpfchen ist er jetzt wieder getreten? Welche völlig unsinnigen Zusammenhänge hat er hergestellt? Und welches westliche Land ist diesmal an allem Leid der Welt schuld? Denn daß der Westen an fast allem schuld ist, das steht für ihn fest. China, Iran, Syrien – da sind von Haus aus der Frieden und die Freiheit daheim, da hört man von ihm kein böses Wort. Aber der Westen! Es dürfte ihn eigentlich gar nicht geben. Norden, Süden und vor allem Osten – das hätte doch völlig gereicht! Ja, das alles hat der Genosse Lawrow in seiner diplomatischen Karriere im guten alten Sowjetrußland von der Pike auf gelernt.
So, und jetzt überlegen wir einmal zusammen, wer schuld am syrischen Problem ist. Ahnen Sie es schon?
Richtig – der Westen!
Aber Lawrow hat eine ausgesprochen raffinierte Beweisführung, die fast ein bißchen an die mittelalterliche Scholastik erinnert. Wir wollen einmal versuchen, seinen Gedankengängen zu folgen.
Erstens, sagt Lawrow, habe Assad die Mehrheit der syrischen Bevölkerung hinter sich, deshalb müsse er auch nicht zurücktreten. Zweitens unterstütze Rußland keine der beiden Seiten. Lawrow sagt sogar (hier nachzulesen): „Wir unterstützen Baschar al-Assad nicht.“ Wenn jetzt jemand mit Gewalt einen Widerspruch zwischen diesen beiden Sätzen konstruieren will, dann soll er es ruhig tun. Vielleicht ist Lawrow ja, wie sein Präsident, auf die alten Tage fromm geworden und sagt sich: credo quia absurdum?
Der erste These freilich stimmt ohne Zweifel: Assad hat die Mehrheit der Bevölkerung hinter sich. Immer! Sobald nämlich die Opposition zu stark wird, sorgen Assads Milizen mit ihren russischen Waffen dafür, daß die Minderheit auch eine Minderheit bleibt. Daß die UN-Vertreter nach dem Massaker in Tremseh überall Blut und Gehirnflüssigkeit gefunden haben, ist also nur ein Zeichen dafür, daß Lawrow recht hat. Gut, es mag Staaten geben, wo man so etwas mit Wahlen und Stimmzetteln herausfindet, aber wenn Assad Blut und Gehirnflüssigkeit bevorzugt, dann ist das sein gutes Recht. Alles andere wäre ein Einmischung in die inneren Angelegenheiten Syriens.
Und jetzt kommt der Westen. Er erpreßt Rußland nämlich! Wenn Rußland keine Sanktionen gegen Syrien mittrage, so übersetzt Lawrow die westliche Haltung, dann drohe der Abbruch der UN-Beobachtermission. Das syrische Volk zahle den Preis für diese Haltung des Westens.
Jetzt bin ich ja, anders als Assads Milizen, schon immer der Ansicht gewesen, daß die Gehirnflüssigkeit am besten im Innern des Kopfes aufgehoben ist – da, wo sie hingehört. Aber auch da funktioniert sie nicht immer so, wie man es sich wünscht. Assad schießt seit über einem Jahr auf alles, was sich ihm in den Weg stellt – und an diesem Leid ist eine Erpressung des Westens schuld, von der Lawrow gerade erst gehört hat? Sind da vielleicht Zeit und Raum, wie in der Schopenhauerschen Transzendenz, schon aufgehoben? Kann die Folge einer Handlung gleichzeitig deren Ursache sein?
Nennen wir es – soviel Latein muß sein – das mysterium Lavrovianum.