Ave Maria

Es ist schon merkwürdig, wie einem das Gedächtnis manchmal Streiche spielt. Vor vielen, vielen Jahren besuchte ich einmal eine Vorlesung über Rainer Maria Rilke. Der Dozent – seinen Namen habe ich lange vergessen – zitierte aus einem von Rilkes Gedichten die Zeile „jetzt und in der Stunde unseres Todes“. Er fragte das Auditorium, ob die Zeile jemandem bekannt vorkomme – aber niemand meldete sich.

Niemand von uns – durch und durch säkularisiert, wie wir damals waren – wußte, daß der Ausdruck aus einem der ältesten Gebete des Christentums stammte: aus dem Ave Maria.

Ich vermute, daß auch heute viele dieses Gebet nicht mehr kennen (viele sind ja mit buddhistischen oder esoterischen Texten vertrauter als mit denen unserer eigenen Religion), deshalb sei es hier zitiert:

Gegrüßet seist du, Maria, voll der Gnade,
der Herr ist mit dir.
Du bist gebenedeit unter den Frauen,
und gebenedeit ist die Frucht deines Leibes, Jesus.
Heilige Maria, Mutter Gottes,
bitte für uns Sünder
jetzt und in der Stunde unseres Todes.
Amen.

Bis vor kurzem hieß es übrigens noch „gebenedeit unter den Weibern“, aber das klang wohl manchem zu altertümlich. Warum man freilich die „Weiber“ gestrichen, das nicht weniger altertümliche „gebenedeit“ (für benedictus, gesegnet) aber gelassen hat, bleibt ein Geheimnis.

Wir wollen das Ave Maria aber auch einmal in der Sprache lesen, in der es jahrhundertelang überliefert wurde – auf lateinisch:

Ave Maria, gratia plena,
Dominus tecum.
Benedicta tu in mulieribus,
et benedictus fructus ventris tui, Iesus.
Sancta Maria, Mater Dei,
ora pro nobis peccatoribus
nunc et in hora mortis nostrae.
Amen.

Ein Rätsel freilich bleibt: nirgendwo bei Rilke habe ich bis heute die Zeile „jetzt und in der Stunde unseres Todes“ wiedergefunden. Hat mich meine Erinnerung getäuscht – obwohl ich die Szene auch heute noch klar vor Augen habe? Oder gibt es die Stelle doch, irgendwo versteckt im lyrischen Werk des Dichters?

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