Schopenhauer ist, neben Kant, der größte deutsche Philosoph. Das kann man, glaube ich, mit den besten Argumenten belegen, und wer einmal begonnen hat, ihn zu lesen, kann schwerlich wieder damit aufhören. Aber man man muß schon die Werke selbst lesen, nicht das, was in den sog. „Philosophiegeschichten“ über ihn kolportiert wird. Er hat nämlich wie kein anderer darunter gelitten, daß man ihn zu Lebzeiten überhaupt nicht beachtet und danach in die falschen Schubladen gesteckt hat: er war (völlig zu Unrecht!) auf einmal der böse Geist, der stets verneint, ein Pessimist von Grund auf, der Vorläufer Nietzsches (die beiden haben in Wahrheit nichts, aber auch gar nichts gemein!) – und natürlich war er ein Weiberfeind. Ja, es ist richtig, manches, was er schreibt, würde Emma nicht abdrucken, man würde es heute als frauenfeindlich einstufen. Aber das ist nicht mehr als eine (wahrscheinlich nur biographisch erklärbare) Marotte, sie schmälert nicht sein Werk, sie hat im Grunde damit überhaupt nichts zu tun. (Ganz abgesehen davon, daß selbst diese oft ungerechten Invektiven noch viel, viel geistvoller sind als die gesamte Gender-Korrektheit der Gegenwart.)
Ich habe heute, eher zufällig, einen Abschnitt aus seiner Schrift „Vom Unterschiede der Lebensalter“ herausgegriffen. Man kann darin sehr schön sehen, wie er schreibt und philosophiert. Sein Hauptwerk – Die Welt als Wille und Vorstellung – ist natürlich strenger in der Anlage, und man tut gut daran, es mindestens zweimal zu lesen. Aber das ist eben auch das Zeichen wirklicher Philosophie: daß sie nicht seicht dahinplätschert wie manches, was heute, fast frevlerisch, Philosophie genannt wird, obwohl es doch nur seichteste Ratgeberliteratur ist.
Also – hier ist eine kleine Bemerkung über die Jugend und das Alter:
Die Jugend ist die Zeit der Unruhe; das Alter die der Ruhe: schon hieraus ließe sich auf ihr beiderseitiges Wohlbehagen schließen. Das Kind streckt seine Hände begehrlich aus, ins Weite, nach Allem, was es da so bunt und vielgestaltet vor sich sieht: denn es wird dadurch gereizt; weil sein Sensorium noch so frisch und jung ist. Das Selbe tritt, mit größerer Energie, beim Jüngling ein. Auch er wird gereizt von der bunten Welt und ihren vielfältigen Gestalten: sofort macht seine Phantasie mehr daraus, als die Welt je verleihen kann. Daher ist er voll Begehrlichkeit und Sehnsucht ins’s Unbestimmte: diese nehmen ihm die Ruhe, ohne welche kein Glück ist. Im Alter hingegen hat sich das Alles gelegt; theils weil das Blut kühler und die Reizbarkeit des Sensoriums minder geworden ist; theils weil Erfahrung über den Werth der Dinge und den Gehalt der Genüsse aufgeklärt hat, endlich auch weil man nunmehr tausend Chimären allmälig losgeworden ist, welche früher die freie und reine Ansicht der Dinge verdeckten und entstellten; so daß man jetzt Alles richtiger und klärer erkennt und es nimmt für Das, was es ist. Durch dies Alles ist demnach Ruhe herbeigeführt worden: diese aber ist ein großer Bestandtheil des Glücks; wenn nicht gar die Hauptsache.
Ist das nicht schön? Man sieht schon, daß es bei Schopenhauer nie um bloß abstrakte Begriffe geht – alles ist immer auf das Menschliche, die conditio humana bezogen. Und noch etwas muß man wissen: Schopenhauer hat als einer der ersten westlichen Philosophen die Tiefe der buddhistischen Religion und überhaupt des fernöstlichen Geisteslebens erkannt und in sein philosophisches System eingearbeitet.
Vielleicht habe ich ja jetzt dem einen oder anderen ein wenig Appetit gemacht. Man kann übrigens die wunderbare sechsbändige Schopenhauer-Gesamtausgabe von Ludger Lütkehaus beim Zweitausendeins-Verlag für ganze 49,90 Euro kaufen. Sie entspricht bis zum letzten Komma dem Willen des Philosophen – und vielleicht ist sie auch bei Ihnen bald so zerlesen wie mein eigenes Exemplar.