Liu Anjun ist ein einfacher Mann. Er ist selbst schwerbehindert, aber er engagiert sich für die Ärmsten seines Landes, seit er erlebt hat, wie die chinesischen Behörden willkürlich Häuser niederreißen und jeden verprügeln, der sich ihnen in den Weg stellt. „Sind das noch Menschen?“ fragt er – und erzählt von einer alten Frau, der man mit der Faust ins Gesicht geschlagen hat. Ihm selbst zerbricht man die Krücken und verschleppt ihn ohne Haftbefehl in die Berge. Er tritt in den Hungerstreik. Nach einem Martyrium von 44 Tagen läßt man ihn wieder frei. Es ist die bisher letzte von vielen Schikanen gegen ihn, darunter ist auch ein längerer Gefängnisaufenthalt. Seine Geschichte kann man in der heutigen Ausgabe der F.A.Z. nachlesen, ich empfehle sie besonders Martin Roth und den anderen Museumsdirektoren, die so gern mit chinesischen Funktionären Maotai-Schnaps trinken.
In China herrschen Anarchie und Rechtlosigkeit. Die korrupten Behörden bedienen sich offenbar in großem Umfang krimineller Banden, und diese behördlich angestellten Knochenbrecher (bei Marx heißt das „Lumpenproletariat“) verprügeln bereitwillig jeden, der bei den profitablen Geschäften der korrupten Beamten stört.
Zur gleichen Zeit geht China mit immer größerer Brutalität gegen die buddhistischen Klöster vor. Im Kloster Kirti in Sechuan hatte sich vor einem Monat ein Mönch aus Protest gegen die chinesische Tibet-Politik verbrannt. Die Reaktion kam schnell: ein Teil der Mönche wurde geschlagen, mit Hunden gejagt und zur „Umerziehung“ verschleppt. Dann hat man das ganze Kloster mit Stacheldraht eingezäunt und keine Lebensmittel mehr hineingelassen.
Es mag sein, daß die chinesische Führung das für Stärke hält, aber in Wirklichkeit zeigt sie damit nur ihre Schwäche, ihre Armseligkeit. Jedes freie Wort macht ihr Angst, von jedem mutigen Menschen fühlt sie sich bedroht. Da wird noch einiges auf sie zukommen.
Einst wollte Gott, so steht es in der Bibel, die sündhafte Stadt Sodom vernichten – aber wenn nur zehn Gerechte unter ihren Bewohnern seien, wollte er die Stadt verschonen.
In China leben viel mehr als zehn Gerechte. Überall im Land gibt es aufrechte Männer und Frauen wie Liu Anjun, die keine Angst mehr haben vor der nackten Gewalt. Sie wehren sich gegen das Unrecht, auch wenn man sie verprügelt, einkerkert und damit zunichtemachen will.
Man wird ihrer noch gedenken, wenn man die Namen ihrer Peiniger schon lange vergessen hat. Ihnen gehört die Zukunft.