Ich habe mich mein ganzes Leben lang – zumindest die letzten 50 Jahre – intensiv und immer liebevoll mit Sprache und Literatur befaßt, man könnte fast sagen, daß die Sprache mein Leben war. Und jetzt, auf meine alten Tage, muß ich im Internet lesen, daß es heutzutage Schriftstellende und Lesende gibt. Schriftstellende! Bei diesem Wort überkommt mich ein bisher nicht gekanntes Gefühl der Wut und der Ohnmacht. Was sind das für Menschen, die einen Autor als Schriftstellenden verunglimpfen?
Die erste Vermutung, daß es sich hier um Lernbehinderte handeln könnte, die aus bildungsfernen Schichten kommen, bestätigt sich leider nicht.
Eine Lektorin, die sich selbst als „Sprachexpertin“ bezeichnet, bietet ihre Dienste nicht nur Unternehmen, sondern auch Studierenden – und Schriftstellenden an. Ein „Schreibwerk“ für Autoren meint bescheiden: „Als etablierte Schriftstellende sind wir Meister:innen auf unserem Gebiet.“ Eine Schweizer Seite verspricht marktschreierisch „alles über die besten Schriftstellenden aus der Schweiz und ihre bekanntesten Werke“. Ein mittelfränkischer Landkreis vergibt seinen Literaturpreis nur an „Schriftstellende, die im Landkreis wohnen oder deren Leben und Werk eng mit dem Landkreis Roth“ verbunden ist. Auf der „Lesebühne“ der Stadt Pfaffenhofen werden demnächst „Schriftstellende ihre Bücher präsentieren“. Ein Lektorat gibt stolz bekannt, daß „Selbstverlegende, Schriftstellende & Übersetzende“ zu seinen Kunden gehören. Die Stadt Heidelberg meldet, daß der von ihr vergebene Hilde-Domin-Preis „alle drei Jahre an Schriftstellende vergeben“ werde, die „im Exil in Deutschland leben“. Eine andere Seite nennt uns „10 Schriftstellende, die ein Pseudonym verwenden“. Museenkoeln.de verkündet, der Verlag Ergo Pers bringe „Schriftstellende und Kunstschaffende zusammen, um verbale und visuelle Beziehungen zu erforschen“. Die Museen Tempelhof-Schöneberg veranstalten eine Führung durch die „idyllische Landgemeinde“ Friedenau, wo „sozialistische Schriftstellende“ und „moderne Künstler_innen“ gelebt haben. Eine Werkstätten-GmbH läßt „Schriftstellende und kreative Köpfe“ zu Wort kommen. Das Magazin Sumikai berichtet, daß der „Akutagawa-Preis für aufstrebende Schriftstellende“ an zwei Frauen vergeben wurde. An der Frankfurter Buchmesse 2022 haben, wie das Journal Frankfurt berichtet, „Schriftstellende aus über 80 Ländern“ teilgenommen. Auf der Frühjahrstagung der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung hat schon im Jahr 2009 (!) laut taz nicht nur ein „mehrheitlich graumeliertes Publikum“ gesessen, es fanden sich auf dem Podium auch „ein Moderator und drei als jung vorgestellte Schriftstellende“. Im März dieses Jahres, berichten die Niederösterreichischen Nachrichten, lasen (der aufmerksame Leser wird es schon ahnen) „drei Schriftstellende“ Texte über Kafka. Die Kulturstaatsministerin Claudia Roth freut sich mit Salman Rushdie über dessen Auszeichnung mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, erwähnt aber auch die Gefahr, der „mutige und leidenschaftliche Schriftstellende weltweit“ ausgesetzt seien. Der Licher Literaturpreis, der, wie das Börsenblatt berichtet, 2022 zum ersten Mal vergeben wurde,
zeichnet deutschsprachige Schriftstellende aus, die oder der mit einem Werk oder einer Werkphase einen besonderen Beitrag zur zeitgenössischen deutschsprachigen Literatur geleistet hat.
Man betrachte die kreative, ja kühne Syntax des Börsenblatts: obgleich sich der Relativsatz auf den an sich schon kreativen Plural „Schriftstellende“ bezieht und folglich mit „die“ beginnen müßte, spaltet das Blatt ihn mit der Formel „die oder der“ einfach in zwei Singulare auf und macht damit die jahrhundertelang unsichtbare Frau endlich auch grammatisch sichtbar. Das ist hohe Sprachkunst!
Gefreut haben wir uns auch über die Meldung der Zentralbibliothek Zürich, daß an der Lesung „Liebe, Lesen, Sex und Glitter“ im Juni neben Liliia Zhernova und Zora del Buono auch „Donat Blum, eine schriftstellende Person“ teilgenommen hat. Weit in die Zukunft führt uns „radio klassik Stephansdom“ mit folgender Frage:
Vor dem Hintergrund der Klima- und Biodiversitätskrise und des rasanten Tempos technologischer Entwicklungen wurden österreichische Schriftstellende gemeinsam mit Schriftstellenden aus der ganzen Welt eingeladen, sich in Dialog-Projekten mit der Frage auseinanderzusetzen, in welcher Welt wir 2040 leben wollen.
Vielleicht in einer Welt, in der es keine Schriftstellenden mehr gibt, sondern nur noch Schriftsteller, Autoren, Dichter?
Aber auch wenn mancher Leser jetzt verdrießlich dreinschaut, wollen wir unsere Auflistung des grausamen Neudeutsch noch ein wenig fortsetzen. Da haben wir zum Beispiel das Museum für angewandte Kunst in Wien, das zu einem geheimnisvollen
Open Häkeln / Poetry by (young) MAK und mit Die Große [sic!]
einlädt. Wer da häkelt, erfahren wir nicht, nur daß „junge Schriftstellende“ ihre Texte vortragen dürfen. Das Hotel de Russie in Rom wirbt mit seiner Lage an der Piazza del Popolo und fügt nicht ohne Stolz hinzu:
Kein Wunder also, dass Kunstschaffende, Schriftstellende, Stars und Menschen aus der Politik bereits seit 1917 hier gern ein und aus gehen.
Wobei man getrost davon ausgehen kann, daß im gesamten 20. Jahrhundert nicht ein einziger Schriftstellender in diesem Hotel genächtigt hat – allenfalls ein Schriftsteller.
In dem Landkreis, in dem ich aufgewachsen bin, hat sich der Landrat in den 70er Jahren an jedem Haus, jeder Brücke, jeder Schule in Stein verewigen lassen. So waren Landräte damals. Der Landrat des Landkreises Augsburg ist da bescheidener, er läßt sich inmitten der Bilder einer Ausstellung fotografieren und schreibt:
Kultur ist für eine Region unverzichtbar. Ob professionelle Kunstschaffende, Musikschulen, Theatergruppen oder Schriftstellende; sie alle leisten einen großen Beitrag zur Lebensqualität in unserem Landkreis.
Ach, ich sehe schon, lieber Leser: es reicht Dir so langsam! Ehrlich gesagt: mir auch. Setzen wir dem ewigen Einerlei des Dummdeutschen also ein Ende, wenigstens in diesem Beitrag. Nur eines würde mich noch interessieren: weiß jemand, wer das Wort Schriftstellender als erster verwendet hat? Wer war der (Sprach-) Patient Zero? Die früheste Erwähnung, die ich gefunden habe, ist der Artikel der taz vom 26. Mai 2009.
PS: Auch ich habe den Niedergang der deutschen Sprache, des Geistigen überhaupt in unserem Land, viel zu spät erkannt. Von der Germanistik mit ihrer Abgehobenheit und ihren Diskussionen im Elfenbeinturm rede ich gar nicht, da ist alles vetrocknet und unfruchtbar. Aber wo sind die Deutschlehrer, die noch in der Lage sind, ihren Schülern (wenigstens auf dem Gymnasium!) beizubringen, wie armselig es ist, mit einem Rumpfvokabular wie „mega“ oder „super“ auszukommen? Haben die Lehrer selbst schon aufgegeben? Oder stammen viele von ihnen bereits aus einer Generation, die mit der Schönheit von Sprache und Literatur nichts am Hut hat, so daß sich die kulturelle Abwärtsspirale immer weiter beschleunigt? Ich weiß es nicht. Aber vielleicht ist die Zeit gekommen, darüber nachzudenken, ob man sich nach Kastalien zurückziehen sollte – damit die Flamme wenigstens weiterglimmt.