Karl Kraus hat das 1878 von dem Schweizer Schriftsteller Gottfried Keller verfaßte Gedicht „Die öffentlichen Verleumder“ 1926 in seiner Fackel in die kleine Rubrik „Zeitgemäßes von Gottfried Keller“ aufgenommen. Erschreckend zeitgemäß war es 1926, weil es präzise und bildgewaltig den Aufstieg eines „Schächers“ beschreibt, dem die Menschen in ihrer „Blödigkeit“ hinterherlaufen:
Ein Ungeziefer ruht
In Staub und trocknem Schlamme
Verborgen, wie die Flamme
In leichter Asche tut.
Ein Regen, Windeshauch
Erweckt das schlimme Leben,
Und aus dem Nichts erheben
Sich Seuchen, Glut und Rauch.
Aus dunkler Höhle fährt
Ein Schächer, um zu schweifen;
Nach Beuteln möcht er greifen
Und findet bessern Wert:
Er findet einen Streit
Um Nichts, ein irres Wissen,
Ein Banner, das zerrissen,
Ein Volk in Blödigkeit.
Er findet, wo er geht,
Die Leere dürft’ger Zeiten,
Da kann er schamlos schreiten,
Nun wird er ein Prophet!
Auf einen Kehricht stellt
Er seine Schelmenfüße
Und zischelt seine Grüße
In die verblüffte Welt.
Gehüllt in Niedertracht,
Gleichwie in einer Wolke,
Ein Lügner vor dem Volke,
Ragt bald er groß an Macht
Mit seiner Helfer Zahl,
Die hoch und niedrig stehend,
Gelegenheit erspähend,
Sich bieten seiner Wahl.
Sie teilen aus sein Wort,
Wie einst die Gottesboten
Getan mit den fünf Broten,
Das klecket fort und fort!
Erst log allein der Hund,
Nun lügen ihrer Tausend;
Und wie ein Sturm erbrausend,
So wuchert jetzt sein Pfund.
Hoch schießt empor die Saat,
Verwandelt sind die Lande,
Die Menge lebt in Schande
Und lacht der Schofeltat!
Jetzt hat sich auch erwahrt,
Was erstlich war erfunden:
Die Guten sind verschwunden,
Die Schlechten stehn geschart!
Wenn einstmals diese Not
Lang wie ein Eis gebrochen,
Dann wird davon gesprochen
Wie von dem schwarzen Tod;
Und einen Strohmann bau’n
Die Kinder auf der Haide,
Zu brennen Lust aus Leide
Und Licht aus altem Grau’n.
Daß dieses Gedicht aus dem 19. Jahrhundert „auf Hitler-Deutschland gemünzt scheint“ (Thomas Mann), ist erstaunlich genug. Für die heutige Zeit ist aber die Parallele zu den Zuständen in den „sozialen Netzwerken“ mindestens ebenso frappierend. Den einen großen Verführer gibt es dort (noch) nicht, aber sonst ist alles da, was so einer bräuchte: da wird gehaßt, gebrüllt, verleumdet und gelogen, daß sich die Balken biegen, und auf viele Foren trifft zu, was Keller schreibt: „Die Guten sind verschwunden, die Schlechten stehn geschart!“
Daß uns, wie Keller in einem Brief bemerkt, nur eine „dünne Kulturdecke von den wühlenden und heulenden Tieren des Abgrunds zu trennen scheint“, weiß eigentlich jeder Mensch, der mit offenen Augen durchs Leben geht.