Polizeipraxen, wesenhafte Bedeutungsbeziehungen und die Hauptstadt von Usbekistan

Um das geographische Wissen steht es nicht gut in unserem Land, das kann man in jeder beliebigen Quizsendung beobachten: die Rubrik „Geographie“ wird von den Kandidaten gemieden wie das Weihwasser vom Teufel. Könnte da nicht Hilfe von jenen Instituten kommen, wo unsere Geographen und Erdkundelehrer ausgebildet wetden?

An der Goethe-Universität Frankfurt stehen den über tausend Studenten des Fachbereichs 11 (Geowissenschaften/Geographie) 37 Professoren zur Seite. Sie gehören mehreren Instituten an, eines davon ist das Institut für Humangeographie. Im Lokalteil der gestrigen F.A.Z. konnte man nachlesen, wie eifrig hier geographische Kenntnisse vermittelt werden.

Es geht um das gerade im transcript-Verlag erschienene Buch „Frankfurt am Main – Eine Stadt für alle?“ Die Herausgeber – Johanna Betz, Svenja Keitzel, Jürgen Schardt, Sebastian Schipper, Sara Schmitt Pacífico und Felix Wiegand – sind alle, wie es in dem Artikel heißt, auf verschiedene Art mit dem Institut für Humangeographie verbunden und gesellschaftspolitisch engagiert. Über Svenja Keitzel zum Beispiel, die an dem Institut „seit Juni 2017“ promoviert, kann man in ihrem Kurzporträt nachlesen, daß sie an dem Heildelberger Forschungsprojekt „Polizei, Politik, Polis – Zum Umgang mit Geflüchteten in der Stadt“ beteiligt ist. Ihre Forschungsinteressen:

Intersektionale feministische und postkoloniale Ansätze, Kritische Kriminologie und räumliche Perspektiven auf soziale Ungleichheiten.

Über ihr work in progress, die Doktorarbeit, heißt es dem Porträt:

In ihrem Promotionsprojekt beschäftigt sie sich mit alltäglichen Polizeipraxen in Frankfurt am Main. Hierfür wird insbesondere raumfokussiertes Polizeihandeln in den Blick genommen, welches aus unterschiedlichen Perspektiven und Positionen untersucht wird. Es wird danach gefragt, in welchem Zusammenhang alltägliche Polizeipraxen und die (Re)Produktion sozialer Ungleichheiten sowie Machtverhältnisse stehen und wie sich diese beeinflussen.

Wenn man in meinem Alter so etwas liest, erschrickt man. Um Himmels willen, denkt man: Sind sie wieder da? Sind das die Wiedergänger der 68er? Derselbe linke Kauderwelsch wie vor einem halben Jahrhundert, die „Reproduktion der sozialen Ungleichheiten“, die Machtverhältnisse, und natürlich ist wie damals alles „kritisch“, so wie es einst die „Kritische Theorie“ von Adorno, Horkheimer und Marcuse war, nur halt ein bißchen schlichter: es geht jetzt um „Kritische Kriminologie“ und um „Kritische Geographie“, und in dem Buch sollen (so wörtlich!)

Wissenschaftler*innen und Aktivist*innen, aktivistische Forscher*innen und forschende Aktivist*innen, Nicht-Akademiker*innen und Akademiker*innen

zu Wort kommen. (Den Autoren des Buchs bin ich schon deshalb gram, weil ich diesen Quark zum Zwecke des Zitierens Wort für Wort und Stern für Stern habe abschreiben müssen!)

Ob die akademisch gebildeten Geographinnen und Geographen wissen, wie die Hauptstadt von Tadschikistan heißt oder wo die Grenze zwischen Europa und Asien verläuft (bitte genau beschreiben!), das frage ich lieber nicht. Mit solchen Petitessen mögen sich die „Bildungsbürger“ befassen, die unfähig sind, sich in die postkolonialen, feministischen und intersektionalen Höhen der kritischen Geographie emporzuschwingen.

Nur noch eine kleine sprachliche Handreichung für unsere Autoren. In ihrem Buch und auch anderswo im linken Milieu (bitte googeln!) wird heutzutage immer häufiger von „Polizeipraxen“ gesprochen. Damit sind aber nicht Räumlichkeiten gemeint, in denen Polizisten ärztlich behandelt werden. Hier hilft es, wenn man sich an den 1961 verstorbenen Sprachwissenschaftler Walter Porzig erinnert, der in meiner Studienzeit noch zur germanistischen Pflichtlektüre gehörte. Porzig prägte den Begriff der „wesenhaften Bedeutungsbeziehungen“, die er 1934 so definierte:

Es handelt sich dabei offenbar nicht um eine bloße consociation […], also darum, daß einem bei dem einen wort das andere leicht einfiele, sondern um eine beziehung, die im wesen der gemeinten bedeutungen selbst gründet. Ich nenne sie deshalb wesenhafte bedeutungsbeziehungen.

Wenn man, um ein einfaches Beispiel anzuführen, jemanden fragt, welches Substantiv er mit dem Verb „stapfen“ verbindet, wird jeder sagen: „Schnee“. Man stapft nicht durch Pfützen oder auf Asphalt, man stapft nur durch den Schnee. Stapfen und Schnee bilden also eine wesenhafte Bedeutungsbeziehung.

Und was hat das jetzt mit den „Polizeipraxen“ zu tun? Zunächst einmal: ich habe selten ein so dummes und überflüssiges Wort erlebt. Da wird zu dem (korrekten) Singular „Polizeipraxis“ einfach der künstliche Plural „Polizeipraxen“ gebildet. „Praxen“ als Plural ist aber nur erlaubt, wenn es um die Räumlichkeiten geht, in denen ein Arzt praktiziert. Die Praxis als „bestimmte Art und Weise, etwas zu tun, zu handhaben“ (Duden), wie sie etwa in dem Ausdruck „gängige Praxis“ vorkommt, kann nicht in den Plural gesetzt werden. Dafür ist das (Un-) Wort „Polizeipraxen“ (anstelle des passenden Worts „Polizeipraktiken“) inzwischen ein gutes Beispiel für die von Porz postulierten „wesenhaften Bedeutungsbeziehungen“ – es kommt nämlich, jedenfalls in einem bestimmten linken Milieu, fast nur zusammen mit dem Attribut „rassistisch“ vor. Deshalb müßte man hier, in Erweiterung der Porzschen Begrifflichkeit, eher von milieubedingten Bedeutungsbeziehungen sprechen.

Wenn Sie also, liebe Leser, irgendwann einmal dem Ausdruck „rassistische Polizeipraxen“ begegnen, dann wissen Sie jetzt, daß Sie sich im seltsamen Reich der Aktivist*innen befinden – am Ende womöglich im Land der aktivistischen Forscher*innen oder der forschenden Aktivist*innen des Instituts für Humangeographie in Frankfurt am Main.

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