Gewissenshenker

Ich habe an dieser Stelle schon schon einige Male aus Friedells Kulturgeschichte der Neuzeit zitiert. Heute will ich meinen Lesern ein weiteres Beispiel für den Tief- und Scharfsinn dieses Autors geben. In seinem Kapitel über die Reformation schildert er die

Paradoxie, daß der reaktionäre Katholizismus oft viel toleranter, konzilianter und anpassungsfähiger war als der freiheitliche Protestantismus.

Er beruft sich dabei auf einen „unverfänglichen Beurteiler“, nämlich den Gründer der pietistischen Herrnhuter Brüdergemeine, Nikolaus Ludwig von Zinzendorf (1700-1760).

Die Katholiken führen das Anathem gegen die Gegner wohl im Munde und im Panier, haben aber oft viel Billigkeit gegen sie in praxi. Wir Protestanten führen libertatem im Munde und auf dem Schild, und es gibt bei uns in praxi, das sage ich mit Weinen, wahre Gewissenshenker.

Zur Erläuterung für unsere heutigen Abiturienten:
Ein Anathem oder Anathema ist ein Bannfluch der Kirche. Ein Panier war ursprünglich eine Fahne oder ein Feldzeichen, dann aber auch das Spruchband oberhalb eines Wappens. Das Wort bedeutet also soviel wie Wahlspruch. Libertatem ist der Akkusativ von libertas, zu deutsch Freiheit. Wer sich über den Akkusativ wundert, dem sei gesagt, daß lateinische Wörter einst wie die deutschen in den von der Syntax geforderten Fall gesetzt wurden. Man kann das immer noch an alten Kirchenliedern beobachten, wie etwa dem von Christian Keimann (der Wikipedia entnommen):

Dieser Beitrag wurde unter Christentum, Sprache und Literatur veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert