Who’s afraid of Louise Glück? Niemand. Es kennt sie auch kaum jemand, zumindest hier in Deutschland. Ein paar Spezialisten haben nach der Verleihung des Nobelpreises für Literatur den einen oder anderen lobenden Artikel geschrieben, das war’s. Ein kurzes Glück.
Der Zeitgeist hat – pflichtgemäß, aber ohne große Begeisterung – frohlockt, daß eine Frau den Preis gewonnen hat. Hauptsache Frau! „Ein Preis für eine von vielen“, schreibt Benno Schirrmeister herablassend in der taz:
Weltweit kann Glück nur als eine von vielen sehr guten Lyrikerinnen gelten. Trotzdem ist es schön, dass sie nun mehr LeserInnen findet.
Schirrmeister kennt sie natürlich alle, die vielen sehr guten Lyrikerinnen. Er zitiert ein paar Verse aus einem von Glücks Gedichten, gibt sich mit beiläufig hingeworfenen Begriffen wie „lyrisches Ich“, „Syllogismus“ oder „Allegorese“ den Anschein von literaturwissenschaftlicher Sachkunde und fügt hinzu, nun, es seien „gewiss keine schlechten Gedichte“, es gebe sogar „ein paar Verse, die muss man einfach lieben“ – um dann unvermittelt zuzuschlagen:
Ist das wirklich alles, was sich von Dichtung derzeit erwarten lässt? Oder spricht aus dieser Wahl nicht zu sehr der Wunsch der Akademie, die eigene Krise durch eine Kandidatin zu überwinden, gegen die keiner etwas hat? Weil ihr Konsensfeminismus fast nie aneckt?
Die Lyrikerin bevorzuge, Gott sei’s geklagt,
traditionelle Lyrikthemen, „Betrug, Sterblichkeit, Liebe und Verlust“, wie der Kritiker Donald Bogen einmal resümiert hat. Er meinte das lobend.
Schirrmeister meint das nicht lobend und kommt rasch auf den Punkt:
Das sind ja weiß Gott alles ernste, allgemein menschliche Probleme, auch wenn sie sich in Glücks Ausgestaltung sehr klar einer bestimmten Klasse zuordnen lassen, die nun mal in den USA weiß ist.
Ich vermute mal, daß auch Schirrmeister „einer bestimmten Klasse“ zuzuodnen ist, und weiß ist er wohl auch, obwohl er sich an einem geistigen Blackfacing versucht. Sein Resümmee, so kurz wie dumm:
Die Akademie hat mit ihrer Wahl eine vergangenheitsweisende Entscheidung gefällt.
Christina Dongowski pflichtet ihm in der taz bei:
Auch wenn man den Impuls verstehen kann, sich aus der surrealen, absurden Gegenwart von 2020 in die „strenge Schönheit“ universeller Werte zurückzuziehen, ist diese Gegenwelt schon wieder weiß, westlich, englischsprachig.
Schon wieder weiß! Ja, was für eine Preisträgerin hätte sich die taz denn gewünscht? Frau sowieso, das steht fest, schwarz auch (schon damit man es mit einem großen „S“ schreiben kann!) – aber auf keinen Fall englischsprachig oder gar deutsch. Vielleicht Swaheli? Oder Xhosa? Alles, nur nicht alt und weiß und westlich. Das aber, liebe Genossen von der taz, ist nichts weiter als geistig schlichter Rassismus – halt nur andersherum.
Wenn es um Literatur geht, empfehle ich immer, den Schriftsteller im Original zu lesen. Nehmen wir nur einmal den Anfang des Gedichts „New World“:
As I saw it,
all my mother’s life, my father
held her down, like
lead strapped to her ankles.
She was
buoyant by nature;
she wanted to travel,
go to theater, go to museums.
What he wanted
was to lie on the couch
with the Times
over his face,
so that death, when it came,
wouldn’t seem a significant change.
Trotz erheblicher Bedenken habe ich die Zeilen ins Deutsche übersetzt. Kann ich denn als Mann das Gedicht einer Frau übersetzen? Darf ich das überhaupt? Kann ich – ein alter, weißer Mann – in den Erfahrungshorizont einer Frau eindringen? Dann aber habe ich mir gesagt: ich wag’s!
Wie ich es sah,
das ganze Leben meiner Mutter, mein Vater
drückte sie herunter, wie
Blei an ihren Knöcheln festgebunden.
Sie war
von Natur aus rege,
sie wollte reisen,
ins Theater gehen, in Museen gehen.
Was er wollte, war
auf der Couch liegen
mit der Times
über seinem Gesicht,
so daß der Tod, wenn er kam,
keinen großen Unterschied machte.
Oder eine Strophe aus dem Gedicht „Paradise“:
Our house was gray, the sort of place
you buy to raise a family.
My mother’s still there, all alone.
When she’s lonely, she watches television.Unser Haus war grau, die Art von Haus,
die man kauft, um eine Familie zu gründen.
Meine Mutter lebt noch dort, ganz allein.
Wenn sie einsam ist, sieht sie fern.
Und so geht es weiter. Es ist eine ganz eigentümliche, lakonische Sprache, aber hinter den scheinbar alltäglichen Wörtern verbirgt sich eine ganze Welt. Es ist eine weiße, eine westliche Welt, und wir können stolz auf sie sein.