Wer die „Neue Altstadt“ im Herzen Frankfurts noch nicht besucht hat, sollte dies schleunigst nachholen. Es ist heutzutage selten, daß ein so kühnes architektonisches Vorhaben ins Werk gesetzt wird, und es ist noch seltener, daß es so gut gelingt.
Wer aber schon einmal da war, dem ist bestimmt ein Haus aufgefallen, das unter den Fenstern einen Frauenkopf im Relief zeigt. Daneben steht „Tante Melber 1734 – 1823“. Hier wohnte Goethes Tante Johanna Maria Melber, geb. Textor, die jüngere Schwester von Goethes Mutter. In seiner Autobiographie „Dichtung und Wahrheit“ hat Goethe ihr ein Denkmal gesetzt:
So waren wir z. B. auf gar mannigfaltige Weise beschäftigt und unterhalten, wenn wir die an einen Materialhändler Melber verheiratete zweite Tochter besuchten, deren Wohnung und Laden mitten im lebhaftesten, gedrängtesten Teile der Stadt an dem Markte lag. Hier sahen wir nun dem Gewühl und Gedränge, in welches wir uns scheuten zu verlieren, sehr vergnüglich aus den Fenstern zu; und wenn uns im Laden unter so vielerlei Waren anfänglich nur das Süßholz und die daraus bereiteten braunen gestempelten Zeltlein vorzüglich interessierten, so wurden wir doch allmählich mit der großen Menge von Gegenständen bekannt, welche bei einer solchen Handlung aus und ein fließen.
Diese Tante war unter den Geschwistern die lebhafteste. Wenn meine Mutter, in jüngern Jahren, sich in reinlicher Kleidung bei einer zierlichen weiblichen Arbeit oder im Lesen eines Buches gefiel, so fuhr jene in der Nachbarschaft umher, um sich dort versäumter Kinder anzunehmen, sie zu warten, zu kämmen und herumzutragen, wie sie es denn auch mit mir eine gute Weile so getrieben. Zur Zeit öffentlicher Feierlichkeiten, wie bei Krönungen, war sie nicht zu Hause zu halten. Als kleines Kind schon hatte sie nach dem bei solchen Gelegenheiten ausgeworfenen Gelde gehascht, und man erzählte sich: wie sie einmal eine gute Partie beisammen gehabt und solches vergnüglich in der flachen Hand beschaut, habe ihr einer dagegen geschlagen, wodurch denn die wohlerworbene Beute auf einmal verloren gegangen. Nicht weniger wußte sie sich viel damit, daß sie dem vorbeifahrenden Kaiser Karl dem Siebenten, während eines Augenblicks, da alles Volk schwieg, auf einem Prallsteine stehend, ein heftiges Vivat in die Kutsche gerufen und ihn veranlaßt habe, den Hut vor ihr abzuziehen und für diese kecke Aufmerksamkeit gar gnädig zu danken.
Auch in ihrem Hause war um sie her alles bewegt, lebenslustig und munter, und wir Kinder sind ihr manche frohe Stunde schuldig geworden.
Das Haus, das ganz offiziell „Haus zum Esslinger“ heißt, trägt heute die Adresse Hinter dem Lämmchen 2 und gehört zur hinteren Abgrenzung des Hühnermarkts.
Wer schon einmal da ist, sollte unbedingt auch einen Blick in den wunderschönen Innenhof des Hauses Hinter dem Lämmchen 4 werfen. Er ist nur ein paar Schritte vom Haus der Tante Melber entfernt.
Auch hier war, freilich gut hundert Jahre später, ein Schriftsteller in seiner Kindheit gern zu Gast, um seine Großmutter zu besuchen. Er sollte einmal, so viel sei verraten, der erste Preisträger des damals nur regional bedeutsamen Georg-Büchner-Preises werden.
Aber davon ein andermal.
PS: Von Goethe sind noch einige Briefe an seine Tante Melber erhalten. Einen davon, einen Neujahrsgruß, will ich hier anführen, weil er zeigt, wie (nach heutigen Maßstäben) umständlich und förmlich man damals bei aller Zuneigung unter Verwandten geschrieben hat.
Das neue Jahr will ich nicht heranwachsen lassen, ohne Ihnen, verehrte und geliebte Tante, mit treuen Worten zu versichern, wie glücklich es mich im alten gemacht eine Zeitlang in Ihrer Nähe bleiben zu können, und ein Zeuge Ihres Wohlbefindens und Ihrer häuslichen Zufriedenheit zu seyn. Es giebt mir diese Erinnerung die größte Heiterkeit, wenn ich, wie es nun so oft geschieht, meine Gedanken nach der lieben Vaterstadt richte.
Seyn Sie versichert, daß alle Liebe und Freundschaft die Sie mir erwiesen mir unvergeßlich bleibt, und daß ich nichts mehr wünsche, als noch manche Jahre Sie, mit den werthen Ihrigen, im heitern Wohlseyn anzutreffen, damit Ihr würdiger Sohn noch lange in Ihrer Gesellschaft des Glücks genieße, das er Sich und Ihnen zu erbauen gewußt; empfehlen Sie mich ihm und der lieben Nichte zum allerschönsten.
Weimar 16. Jan. 1815.
Seine „liebe Vaterstadt“ hat Goethe übrigens an anderer Stelle mit, sagen wir: weit weniger liebevollen Ausdrücken bedacht.