Die neue Völkerwanderung: Ratlosigkeit

Wie man mit der Flüchtlingswelle, die kein Ende nehmen will, umgehen könnte, wird überall kontrovers diskutiert (auch in unserer Familie). Man sollte zuallererst einfach einmal zugeben, daß niemand eine Lösung hat, wir nicht und die Politiker auch nicht.

Und niemand, wirklich niemand hat vorhersehen können, daß sich auf einmal so viele Menschen auf den Weg ins Herz Europas machen.

Am wenigsten trauen sollte man freilich jenen, die – wie Horst Seehofer, der neue Herzensbruder des autoritären ungarischen Ministerpräsidenten Orbán – fertige Lösungen anbieten. Und noch weniger jenen, die – wie einst der kommunistische Osten – Mauern bauen. Wer sich weigert, gemeinsam mit den anderen europäischen Ländern nach einer Lösung zu suchen, der hat in einem Europa des guten Willens nichts verloren. Jetzt zeigen sich immer deutlicher die Schatten der EU-Erweiterung, die vor allem von Schröder und Fischer brachial durchgesetzt worden ist. Und noch etwas zeigt sich: daß der rechtliche und politische Umgang mit einer Völkerwanderung dieses Ausmaßes gescheitert ist. Schengen und Dublin sind, wie es der Professor für Öffentliches Recht in Göttingen, Frank Schorkopf, gestern in der F.A.Z. geschrieben hat, „Recht für schönes Wetter“. Diese Bestimmungen sind von den Flüchtlingen buchstäblich niedergetrampelt worden. Wer alle Brücken hinter sich abgebrochen und nichts mehr zu verlieren hat, wer nur noch das nackte Leben gerettet hat, dem wird man eine Rücksicht auf die Subtilitäten der europäischen Gesetzgebung nicht abverlangen können.

Eine Lösung gibt es nicht, aber es gibt Haltungen.

Zwei vor allem: die christliche und die „realpolitische“. Der letzteren hängt, als extremer Vertreter, der feine Herr Orbán an. Wer gesehen hat, wie seine Polizisten – ganz in Schwarz, mit coolen Sonnenbrillen – die Flüchtlinge wie eine eingepferchte Viehherde behandeln, der würde sich freuen, Orbán demnächst einmal (wenigstens symbolisch!) vor irgendeinem Gerichtshof für Menschenrechte wiederzusehen. Daß die CSU, die „Maut-Partei“, die kleingeistig und monothematisch geworden ist, ihr Mütchen jetzt an den Flüchtlingen kühlt und sich an einen Orbán heranschleimt, zeigt ja nur, wie weit es mit ihr gekommen ist.

Die andere Haltung, der auch ich mich verpflichtet fühle, ist die christliche. Wenn so viele Menschen ihre letzte Habe verkaufen und sich auf den Weg machen, um für ihre Kinder eine bessere Zukunft zu schaffen, da kann man doch nicht seelenruhig zusehen, wie sie von einem Orbán malträtiert und schikaniert werden. Da haben Frauen in Bahnhöfen und auf Feldern Kinder geboren, ohne daß ein Arzt aufgetaucht ist – kann man sich eine größere menschliche Rohheit vorstellen?

Nein: Merkels Entscheidung, vorübergehend die Grenze zu öffnen und diese armen Menschen aus den Klauen der ungarischen Regierung zu befreien, war richtig.

Und sie war nicht nur richtig, sie war in ihrer Schnelligkeit und in den entschlossenen Worten, mit denen Merkel sie bis heute verteidigt, geradezu bewundernswert. Ich muß offen gestehen: das hätte ich der Kanzlerin nicht zugetraut. Ich habe sie immer für opportunistisch gehalten, gerade auch mit ihrer Energiepolitik nach Fukushima (da war sie auch opportunistisch!). Aber in der Flüchtlingsfrage hat sie gezeigt, daß sie eine moralische Richtschnur hat und sich gegen die primitiven Polterer aus Bayern, die deutschen Orbánisten, zu wehren versteht.

Was bedeutet das jetzt für die praktische Politik?

Natürlich kann man hier nicht „ganz Syrien“ aufnehmen. Das will ja auch niemand. Man muß den Zuzug allmählich verlangsamen und am Ende stoppen, wenn die Ressourcen aufgebraucht sind. Dann mögen die Nachbarländer fortfahren – und wenn sie das nicht tun, dann haben sie das mit ihrem eigenen Gewissen zu vereinbaren. Jede Moral, jede Nächstenliebe stößt ja am Ende an praktische Grenzen. Aber auch das ist nur eine Binsenweisheit.

Wie das alles weitergeht, kann niemand weissagen.

Aber schäbige Hysterie sollte niemand schüren. Außer der unsäglichen CSU tut das ja auch niemand. Und auch das zeigt, wie gut es um Deutschland steht: unaufgeregte Hilfsbereitschaft überall, keine Panik, keine Hysterie.

Deutschland, so scheint mir, ist erwachsen geworden. Wie schön!

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