Die inzwischen fast täglichen Meldungen und „Herabstufungen“ der sog. Ratingagenturen haben längst die Grenze des Erträglichen überschritten. Auch immer mehr Politiker fordern inzwischen, daß die „Macht der Ratingagenturen gebrochen“ werden muß. Nur – sie tun es nicht! Ganz im Gegenteil: wie das Kaninchen auf die Schlange, so starren sie ängstlich auf die nächste Herabstufung, die ihnen von Fitch, Moody’s oder Standard & Poor’s übermittelt wird.
Sie lassen sich weiter von der Finanzwelt demütigen, kriechen zu Kreuze, nehmen alles geduldig hin. Dabei sind sie doch gewählte Politiker, sie haben von uns ein Mandat bekommen, und sie müßten stolz darauf sein. Kein Banker, kein Mitarbeiter einer Ratingagentur, kein Anlageberater ist je von irgendjemand legitimiert worden, sie alle bedienen nur wirtschaftliche Interessen, über die man im übrigen meist wenig weiß. Ein Politiker muß sich vor solchen Interessenvertretern doch nicht verstecken! Die moralische Autorität selbst des letzten Hinterbänklers liegt meilenweit über der dieser Gewinnemacher, Spekulanten und Finanzjongleure.
Aber die Politiker, soweit sie nicht einfach Angst (und eine nicht unbegründete Angst!) vor der Macht der Finanzwelt haben, empfinden vielleicht gleichzeitig auch so etwas wie eine uneingestandene, klammheimliche Bewunderung für diese Männer, die so viel mächtiger sind als sie selbst. Während sie sich um Wahlkreise und Rechtsvorschriften und jeden Kleinkram kümmern müssen, können die Finanzjongleure schalten und walten, wie sie wollen. Niemand hat sie legitimiert, also sind sie auch niemandem verantwortlich. Wenn sie ganze Firmen (und damit vielleicht Hunderttausende von Arbeitnehmern) ins Unglück stürzen – was ist dabei? Sie haften für nichts, sie erstatten nichts, für sie gilt keine Moral. Sie sind so frei, wie es kein demokratischer Politiker je sein kann.
Und diese Freiheit ist in der Finanzwelt die Quelle von ungeheuren Allmachtsphantasien geworden. Es ist Macht ohne Verantwortung, man kann tun und lassen, was man will, ohne für irgendetwas haftbar gemacht zu werden. Mit einer einzigen Pressemeldung können sie ganze Länder ins Unglück stürzen – und sie können es nicht nur, sie tun es. Griechenland, Irland, Portugal, ein paar Herabstufungen, und schon zittert ganz Europa. Man braucht kein Psychologe zu sein, um sich vorzustellen, was da in den Köpfen vor sich geht. Über die Ethik in der Finanzwelt hat man vielleicht einmal am Beginn der Karriere in einem Seminar gesprochen, danach nicht mehr. Wozu auch? Die Ethik wäre nur lästig, hinderlich. Markt ohne Moral, so heißt denn auch das Buch von Susanne Schmidt, der Tochter von Helmut und Loki Schmidt, die als Investment-Analystin viele Jahre ein Teil des Systems war.
So hat man im Lauf der Jahre jedes Maß verloren und muß über die Folgen des eigenen Tuns nicht mehr nachdenken.
Viele meinen, es ginge hier nur um einen wirtschaftlichen Konflikt zwischen den meist in den USA beheimateten Ratingagenturen auf der einen und den europäischen Ländern auf der anderen Seite, also um die Kluft zwischen der neuen Welt und dem alten Europa. Aber warum greifen diese Agenturen dann immer heftiger ihr eigenes Land an und setzen es unter Druck? Heute hat Moody’s, wie man in der F.A.Z. nachlesen kann, die USA aufgefordert,
die Obergrenze bei der Staatsverschuldung abzuschaffen, um Investoren nicht zu verunsichern.
Schon vorher hatte die Agentur den Vereinigten Staaten mit einer Aberkennung der bisherigen Bestnote gedroht. Es geht also nicht um wirtschaftliche Konflikte zwischen Ländern oder Kontinenten, es geht um viel mehr. Es geht, kurz gesagt, um eine Art Entscheidungsschlacht zwischen demokratisch legitimierter staatlicher Autorität und einer völlig außer Rand und Band geratenen Finanzwelt, die keine Grenzen, keinen Anstand und keine Moral mehr kennt.
Diese Schlacht ist nocht nicht entschieden. Aber mit jedem Tag schwindet die Hoffnung, daß man diese von ihrer Macht betrunkenen, international vernetzten Finanzmanager noch in die Schranken weisen kann.