Ein historischer Völkermord wie der an den Armeniern, den übrigens die meisten Türken bis heute nicht als Teil ihrer Geschichte begreifen, ist eine feine Sache. Er ist ja schon geschehen, und man kann ihn den Tätern – auf Kongressen, in Sonntagsreden, in ethisch einwandfreien Abstimmungen – in Erinnerung rufen, ohne einen Finger zu rühren. Das macht sich gut, man steht auf jeden Fall moralisch sauber da.
Aber was macht man, wenn ein Völkermord in vollem Gange ist?
Die Kanzlerin macht das, was sie in solchen Fällen immer macht: sie wartet erst einmal ab. Das ist ja im tiefsten Grunde ihr Erfolgsrezept: sie handelt erst dann, wenn es gar nicht mehr anders geht. Nichts wird so heiß gegessen, wie es gekocht wird, sagt sie sich. Dieses Kochrezept ihrer Politik hält sie eisern durch, mit einer einzigen Ausnahme: der Energiewende. Da hat sie sich – im Rausch des Populismus – dazu verleiten lassen, schnell zu handeln, und extrem dumm dazu. Das kommt uns alle teuer zu stehen.
Aber ein geplanter Völkermord am Rande Europas? Ach, wird schon nicht so schlimm werden! Der Kelch wird an uns vorübergehen. Hoffentlich. Außerdem können das ja die Amis sowieso viel besser als wir. Ein Völkermord ist auch keine Chefsache, da schickt die Kanzlerin ihren Sprecher oder ein paar Hofschranzen oder den dicken Gabriel vor.
Aber das ist nicht mehr so einfach wie im Jahr 1915, als die deutsche Regierung dem Völkermord an den Armeniern tatenlos zugesehen hat, obwohl sie über jedes grausame Detail unterrichtet war. Heute gibt es – Bilder! Und diese Bilder gehen in Sekunden rund um die Welt. Die Jesiden sind nicht mehr eine abstrakte „Religionsgemeinschaft“, über die man allenfalls googelt: sie sind – selbst mit den wenigen Videoaufnahmen, die es gibt – ein leidendes Volk, sie verhungern und verdursten im Gebirge, Mütter können ihre toten Kinder nicht begraben, und überhaupt hat man so viel Verzweiflung in menschlichen Gesichtern lange nicht mehr gesehen. Da begreift sogar die deutsche Regierung, daß sie zumindest so tun muß, als werde sie tätig. Auch Obama hat sich ja, wie es seine Art ist, lange gedrückt, aber er hat immerhin am Ende energisch eingegriffen, um die geplante Ausrottung von Christen und Jesiden zu verhindern.
Von Merkel hört man immer noch nichts. Sie läßt Gabriel und von der Leyen reden, die jetzt „nicht-lethale Ausrüstungsgegenstände“ an die irakische Armee liefern wollen. Da traut man seinen Ohren nicht. Will man die Sachen etwa an al-Maliki liefern, dem erbärmlichsten aller Politiker im Nahen Osten, der sie dann gegen innenpolitische Rivalen einsetzt?
Und „nicht-lethal“, also nicht tödlich: da werden sich die muslimischen Banden aber freuen! Denn anders als mit tödlichen Waffen wird man ihnen nicht beikommen.
Man muß es leider wieder einmal sagen: die europäischen Regierungen haben auch jetzt wieder auf beschämende Weise versagt. Um ihren Wohlstand kümmern sie sich in geradezu aufopfernder Weise, aber wo es darauf ankommt, einen Völkermord zu verhindern (und noch kann er verhindert werden!), müssen sie zu jeder kleinen Tat förmlich geprügelt werden.